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Es darf ein bisschen mehr sein!

© Foto: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa

Wie der Mindestlohn Tarifpolitik beeinflusst: Die Einmischung des Staates kann den Gewerkschaften helfen

Zwölf Euro pro Stunde: Das wurde vom Gesetzgeber beschlossen. Aus diesem vermeintlichen Zeichen der Schwäche der Tarifverhandler lässt sich Stärke kreieren. Ein Gastbeitrag.

Von Anis Ben-Rhouma

Für die Beschäftigten in diesem Land gab es am Ende des Monats September trotz aller dunklen Wolken zwei einigermaßen gute Nachrichten: Erstens fiel der Tag der Deutschen Einheit dieses Jahr auf einen Montag und ist somit im Gegensatz zum vergangenen Jahr tatsächlich arbeitsfrei gewesen. Zweitens erhöht sich der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde.

Die Ampel-Koalition hat beschlossen, dass dieses zentrale Wahlversprechen der SPD jetzt realisiert wird. Niemand hatte voraussehen können, dass in der zweiten Jahreshälfte 2022 eine massive Krise inklusive einer galoppierenden Inflation insbesondere bei den Energiepreisen über das Land fegt.

Dennoch hilft diese Entscheidung jetzt unteren Einkommensschichten; wenn auch klar ist, dass diese quasi automatische Erhöhung der Löhne bei weitem nicht ausreichen wird, um die massiv gestiegenen Lebenskosten zu bewältigen. Ein viel wichtigeres und bedeutenderes Instrument ist jedoch die Tarifpolitik in den aktuellen Lohnverhandlungen.

Die Erhöhung des Mindestlohns hilft hierbei auch den tariflich Beschäftigten in den Lohngruppen, deren Entgeltgruppen gerade an dieser Zwölf-Euro-Grenze stehen. In den Tarifverhandlungen werden die Gewerkschaften darauf achten, dass die zukünftigen Löhne hier sichtbar drüber liegen müssen.

Die Betriebe werden das auch mitmachen. Nicht nur, weil Arbeitgeber sich hier als gute und großzügige Menschen präsentieren möchten, sondern weil sie schlicht und einfach für die bisherigen niedrigen Löhne keine Fachkräfte mehr finden.

Das Problem trifft auch jene Betriebe, die von den Industriegewerkschaften betreut werden. In Brandenburg, aber auch in Berlin und im restlichen Osten des Landes, gibt es immer noch Tarifverträge, die sich genau an dieser Grenze oder sogar im Moment noch darunter befinden.

Beispielsweise Kunststoffindustrie: Oftmals sind hier Geringqualifizierte ohne Facharbeiter-Ausbildung, Aushilfen und viele Frauen, die zusätzlich in der Teilzeitfalle hängen, von den niedrigen Stundenlöhnen betroffen.

Von seiner Arbeit nicht leben zu können ist auch eine Frage der Würde

Die niedrigen Löhne sind dabei das eine Problem, die darauf basierenden Einzahlungen in die Sozialversicherungssysteme – insbesondere bei der Rente – das andere. Über allem stehen die mangelnde Wertschätzung und die fehlende Würde, die sich darin ausdrückt, dass man mit seiner Arbeit alleine eben keine Familie ernähren kann.

Natürlich ist diese Einmischung des Staates in originär tarifpolitische Fragen auch ein gewisses Zeichen von Schwäche gewerkschaftlicher Organisationskraft, die im Osten des Landes lange nicht das Niveau des Westens erreicht hat.

Aber dennoch ist der Schritt mehr als notwendig. Selbst dieses vermeintliche Zeichen von Schwäche kann aber in Stärke verwandelt werden, wenn die Gewerkschaften klar zeigen, dass mit ihnen gemeinsam noch viel bessere Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden können.

In Flächentarifverträgen sind die Löhne teilweise um ein Vielfaches höher als in Haustarifverträgen oder auch als die Löhne in Betrieben, die gänzlich ohne Tarifvertrag dastehen. Außerdem sind in „der Fläche“ zahlreiche andere Bereiche wie Altersvorsorge, Zuschläge, Pflegeversicherung usw. geregelt.

Zwei zentrale Tarifrunden im Herbst

Im Bezirk Berlin-Mark Brandenburg der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) stehen dabei in der Chemie- und Papierindustrie gleich zwei zentrale Tarifrunden in diesem Herbst an. Beispielhaft können hierbei zwei Unternehmen in Schwedt in der Uckermark genannt werden.

Eine Region, die durch das im nächsten Jahr startende Öl-Embargo und die vor kurzem beschlossenen Energiesicherungs- und Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung wochenlang bundespolitische Aufmerksamkeit bekam.

Die PCK-Raffinerie zahlt nach Tarif.

© Foto: Reuter/HANNIBAL HANSCHKE

Die im Fokus stehende PCK-Raffinerie ist Mitglied im Arbeitgeberverband Chemie Nordost, und durch die Tarifpartnerschaft wird hier beispielsweise ein Zuschlag zum Kurzarbeitergeld fällig, der die Beschäftigten jetzt zusätzlich absichert.

Die Papierfabriken des Schwedter Unternehmens Leipa sind wiederum im Flächentarifvertrag Papier Ost und sind damit genauso tarifpolitische Leuchttürme in der Uckermark. In beiden Unternehmen erwarten die Beschäftigten eine nachhaltige Lohnerhöhung, um die Folgen der Inflation auch tarifpolitisch abzufedern.

Neben der berechtigten Forderung nach einer nachhaltigen Erhöhung der Tabellenentgelte verschafft die von der Bundesregierung beschlossene Möglichkeit der steuer- und sozialabgabenfreien Auszahlung einer Inflationsprämie etwas Luft bei den Verhandlungen.

Es gibt also immer noch jede Menge zu tun für Gewerkschaften - auch mit einem höheren gesetzlichen Mindestlohn wollen sie aus eigener Kraft heraus, die Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder verbessern.

Die ursprünglichen Befürchtungen auf der Arbeitgeberseite bei Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015, dass dieser zum Sterben zahlreicher Betriebe führen würde, trafen größtenteils gar nicht ein. Die Situation ist angesichts der derzeitigen Krise jetzt natürlich eine andere. Aufgrund der gestiegenen Energiepreise stehen Unternehmen tatsächlich vor großen Schwierigkeiten.

Es ist zwar richtig, dass durch die Erhöhung des Mindestlohns jetzt auch steigende Personalkosten dazu kommen. Das ist aber nur ein Bruchteil der riesigen Energiekosten, und der Staat muss und wird jetzt auch mit dem „200-Milliarden-Doppelwumms-Paket“ helfend eingreifen.

Kanzler Olaf Scholz ist der Mann mit „Wumms“.

© Michael Sohn/Pool via REUTERS

Wenn man aber nicht einmal seine Löhne so gestalten kann (oder will), dass Menschen davon leben können, so ist doch eher die Unternehmung an sich infrage zu stellen und nicht eine durchaus verkraftbare Lohnerhöhung. Ganz besonders negativ fällt hierbei ins Gewicht, dass es immer noch teilweise gravierende Lohnunterschiede zwischen Ost und West gibt.

Am Ende hängt auch an dieser Frage die Bereitschaft der arbeitenden Menschen, weiterhin mit der Ukraine solidarisch zu sein. Im Osten bröckelt diese Bereitschaft, vielleicht kann aber ein Blick auf den Lohnzettel im Oktober hier zumindest ein bisschen die Stimmung besänftigen.

(Mindest-)lohnpolitik Reloaded – diese Anspielung auf den zweiten Teil des Kultfilms „Matrix“ soll keineswegs bedeuten, dass der Mindestlohn so etwas wie der „Auserwählte“ Neo mit der Erhöhung auf zwölf Euro werden kann oder werden soll. In Zeiten des Krieges und der Krise geht diese tiefgehende Entscheidung dennoch vielleicht etwas zu sehr unter.

Wenn der Beschluss jetzt zum 1. Oktober umgesetzt wurde, kann man sich vielleicht am Ende des Monats ein klein wenig über eine höhere Auszahlung freuen. Weitaus wichtiger für die Gewerkschaften sind aber die anstehenden Tarifrunden. Sie werden zeigen müssen, dass sie ihren Mitgliedern gerade auch in Krisenzeiten Lohnzuwächse erstreiten können.

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