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In Berlin gibt es bereits ein zweigliedriges Schulsystem. Ein mögliches Vorbild für einen bundesweiten Konsens?

© Thilo Rückeis

Gastkommentar: Zwei Schulen für alle

Die vielen verschiedenen Schulformen in den Bundesländern sind überholt. Doch ideologisch versumpfte Grabenkämpfe verhindern einen bundesweiten Konsens.

Für Nordrhein-Westfalen, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Bundesland, haben die Politiker der drei einflussreichsten Parteien einen „schulpolitischen Konsens“ geschlossen. Die drei Parteien wollen im Herbst gemeinsam die „Hauptschulgarantie“ aus der Verfassung streichen. Eltern werden danach nicht mehr überall diese Schulform vorfinden, sondern sich in manchen Regionen mit Alternativen arrangieren müssen. Die CDU, die in NRW jahrzehntelang auf der Existenz der Hauptschule bestanden hat, lässt diese Forderung fallen und erhält als Gegenleistung von SPD und Grünen die Zusage, auf die gerade eingeführte Gemeinschaftsschule zu verzichten. Als Kompromiss soll anstelle von Hauptschule und Gemeinschaftsschule im Laufe der nächsten zwölf Jahre eine neue Schulform mit dem Namen Sekundarschule treten, die im Wesentlichen die Bildungsgänge der Hauptschule und Realschule zusammenfasst.

Ein klassischer Parteienkompromiss, der durchaus zu würdigen ist, weil er die seit den 1960er Jahren total festgefahrenen und ideologisch versumpften Grabenkämpfe zwischen CDU und SPD für oder gegen ein dreigliedriges Schulsystem nach der Grundschule beendet. Aber inhaltlich bringt der Kompromiss keinen Fortschritt: Erstens gibt es kaum noch Eltern, die für ihre Kinder die Hauptschule wünschen. Die CDU hatte mit ihrem Beharren auf dieser Schulform schon seit Jahren keine Unterstützung mehr in der Wählerschaft. Sie hat sich ihr längst überfälliges Abrücken von der Hauptschule zudem politisch hoch bezahlen lassen. SPD und Grüne müssen auf die Gemeinschaftsschule verzichten, die mit einem längeren gemeinsamen Schulbesuch aller Kinder die Schwächen der Hauptschule ausgleichen sollte. Keiner kann garantieren, dass die neu geplante Sekundarschule die gleiche Akzeptanz finden wird.

Zweitens möchten Eltern endlich von dem Druck befreit werden, nach Ende der Grundschule darum zu kämpfen, dass ihr Kind zu einer Schulform zugelassen wird, die das Abitur anbietet. Sie können nichts mehr mit einem Schulsystem anfangen, bei dem nur der Übergang in das Gymnasium direkt zum Ziel führt und alle anderen Schulformen als Sackgassen empfunden werden. Der neuen „Sekundarschule“ nach Düsseldorfer Muster wurde aber die Oberstufe verwehrt. Damit wird sie von Anfang an für Eltern zweite Wahl sein, auf die sie ihr Kind nur dann schicken, wenn der Weg zum nächsten Gymnasium allzu weit ist. Der Sekundarschule wird deshalb das gleiche Schicksal bevorstehen wie heute den Hauptschulen und in Ansätzen auch schon den Realschulen. Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, Schulformen ohne eine eigene Oberstufe zu gründen. Sie sind zum allmählichen Absterben verurteilt, weil sie nicht alle Abschlussoptionen offenhalten.

Drittens demonstriert der Kompromiss von Düsseldorf, dass eine bundeseinheitliche Gestaltung des Schulsystems in immer weitere Ferne rückt. So begrüßenswert es ist, dass nach Jahrzehnten ideologisch verkrusteter Bildungspolitik Bewegung entsteht und sich die Politik in immer mehr Bundesländern darauf einigt, Alternativen zur Hauptschule einzurichten, so bedrückend ist es anzusehen, wie sich dadurch die Unübersichtlichkeit der bundesdeutschen Schullandschaft exponentiell vergrößert. Die Parteien kreisen bei den Kompromissen um sich selbst und verlieren den Blick für das Gesamtsystem.

In NRW ist der Schulkompromiss zustande gekommen, weil zu den bereits bestehenden acht Schulformen (Grundschule, Förderschule, Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Berufskolleg und Weiterbildungskolleg) nun eine neunte, die Sekundarschule, hinzukommt. So ähnlich sehen auch die jüngsten Kompromisse in den anderen westlichen Bundesländern aus. In den westlichen Bundesländern erblickten Werkrealschule (Baden Württemberg), Oberschule (Bremen), Stadtteilschule (Hamburg), Regionale Schule (Mecklenburg-Vorpommern), Realschule plus (Rheinland-Pfalz), Erweiterte Realschule (Saarland), Regionalschule (Schleswig-Holstein) das Licht der Welt. Zu einer Reduzierung der Schulformen brachten die bildungspolitischen Unterhändler nirgends den Mut auf.

Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die das Grundgesetz fordert, ist damit in einem zentralen Lebensbereich, der für Familien mit Kindern in einer mobilen Gesellschaft von wachsender Bedeutung ist, verloren gegangen. Ein Umzug einer Familie mit drei schulpflichtigen Kindern in ein anderes Bundesland wird fast noch schwieriger als einer in die Schweiz.

Die ganze Bundesrepublik Deutschland braucht jetzt einen tragfähigen schulpolitischen Konsens. Wie der auszusehen hat, weiß im Stillen jeder vernünftige Bildungspolitiker. Ausgerechnet ein Arbeitskreis von CDU-Bundespolitikern hat ihn Ende Juni in einer Beschlussvorlage für den Vorstand noch einmal klar ausformuliert. Da heißt es: „Derzeit haben wir zu viele Schulformen, die Eltern, Schüler und Lehrer gleichermaßen verwirren (...). Ständige Schulstrukturänderungen, je nach Land und Partei, lichten dieses Dickicht nicht. Deshalb treten wir für die Reduzierung der Schulformen und die Einführung des Zwei-Wege-Modells in allen Ländern ein: Gymnasium und Oberschule.“ Neben dem Gymnasium soll die Oberschule „ein weiterer und gleichwertiger Bildungsweg“ sein, der Hauptschule und Realschule zusammenführt und entweder in eine Berufsausbildung oder zum Abitur führt.

Zu besichtigen ist ein solches Zwei-Wege-Modell bereits, nämlich in Berlin. Statt „Oberschule“ heißt die Schule neben dem Gymnasium hier zwar „Integrierte Sekundarschule“, aber ansonsten sind alle Punkte erfüllt, die von der CDU-Kommission genannt werden. Wann werden die Bildungspolitiker der anderen 15 Länder den nächsten Schritt wagen und eine solche Vereinbarung für das gesamte Bundesgebiet treffen? Die CDU-Vorstandsvorlage und das im vorigen Jahr beschlossene Schulgesetz des Senats in Berlin liefern die Blaupause dafür.

Der Autor ist Sozial- und Bildungsforscher und Professor an der Hertie School of Governance in Berlin.

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