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Sind so kleine Hände. Bis zu 80 Prozent aller Mütter haben nach der Entbindung den Babyblues.

©  Milan Virijevic/Getty Images/iStockphoto

Mutterschaft: Postnatale Depression - vom Glück entbunden

Eine fröhliche, strahlende Mutter will sie sein. Eine, die nicht weiß wohin mit ihrer Liebe. Dann bringt sie ihren Sohn zur Welt.

Vier Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes liegt sie weinend in diesem fremden Bett, ohne ihr Baby, allein. Schlafen kann sie nicht. In ihrem Kopf die immergleiche Frage: Wie konnte es so weit kommen, dass sie ihre Familie verlassen hat, und hier ist, in einer Spezialabteilung des Berliner Vivantes-Humboldt-Klinikums, Erdgeschoss, Zimmer A05. Was ist schiefgelaufen? Warum verlor sie die Kontrolle über sich, ihr Leben? Wie konnte ausgerechnet sie in der Psychiatrie landen?

Die 38-Jährige hatte doch immer alles im Griff. Die Schule, das Studium, sie hat einen tollen Job, einen tollen Mann. Dann wird Julia Larsen* Mutter.

Eine fröhliche, strahlende Mutter wollte sie sein. Eine, die nicht weiß, wohin mit ihrer Liebe, die vor Mutterglück fast platzt. Stattdessen fühlt Julia Larsen nichts, wenn sie ihren Sohn im Arm hält. An seiner Stirn riecht. Ihn ansieht. Keine Freude. Keine Wärme. Keine Liebe.

Julia Larsen mag Kinder, ist deshalb Grundschullehrerin geworden. Über den Moment, als sie mit ihrem Freund Tom an einem späten Oktoberabend den Schwangerschaftstest gemacht hat, sagt sie, „wir waren überglücklich“. Umso größer ist der Schock, als dieses Gefühl nach der Geburt von Frido verschwindet.

Laut Fachstudien leiden bis zu 80 Prozent aller Frauen nach der Entbindung ihres Kindes unter dem Babyblues. Einer kurzweiligen Verstimmung, die auch „Heultage“ genannt wird. Die Hauptursache dafür ist das biochemische Durcheinander im Körper: Der beendet abrupt die Produktion der Schwangerschaftshormone, die Hirnanhangsdrüse stellt stattdessen Botenstoffe her, die die Milchbildung anregen. Der Babyblues ist etwas ganz natürliches. Vergeht von selbst.

Anders ist es bei den zehn bis 15 Prozent der Mütter, die eine länger andauernde postnatale Depression entwickeln. Eine Krankheit, die für das Neugeborene gefährlich werden kann. Vier von hundert Betroffenen denken in ihrer Verzweiflung darüber nach, ihr Kind anzuschreien, es fallen zu lassen, schütteln es tatsächlich, töten es im extremsten Fall. Gibt es etwas Herzloseres als eine Mutter, die ihr eigenes Kind umbringt?

Frido fängt an zu weinen - und hört nicht mehr auf

Bei Julia Larsen entwickelt sich die Depression schleichend. In der ersten Nacht nach Fridos Geburt, im Mai 2015, bleibt Larsen wach, obwohl sie zuvor 20 Stunden in den Wehen gelegen hatte und völlig erschöpft ist. Ständig guckt sie nach ihm, unruhig, voller Sorge, sein kleines Herz könne aufhören zu schlagen. Julia Larsen will alles richtig machen. Wirklich alles. Vielleicht geht deswegen alles schief.

In der nächsten Nacht schläft sie auch kaum, in der übernächsten - und in den darauffolgenden viereinhalb Monaten.

Dauerhafter Schlafentzug wird als Foltermittel eingesetzt. Weil er den menschlichen Willen bricht, zu Kopfschmerzen führt, zu Reizbarkeit und Halluzinationen. Er ist eine der Ursachen für eine postnatale Depression, die jede Frau nach der Geburt treffen kann.

Andere Faktoren sind wieder die Botenstoffe im Gehirn - möglicherweise ist das Bindungshormon Oxytocin nicht ausreichend vorhanden - die Überforderung, weil von nun an alles anders ist. Die Verantwortung für dieses kleine Wesen, der Druck, eine perfekte Mutter sein zu wollen, die Angst, in dieser Rolle völlig zu versagen. Bei Julia Larsen, sagt ihre Ärztin, sei es die Summe aus allem gewesen.

Als sie mit Frido nach vier Tagen das Krankenhaus verlässt, ist ihr erster Gedanke: Was mach' ich jetzt mit dir? Eine Woche ist Frido friedlich, dann fängt der Kleine an zu weinen und hört nicht mehr auf. Er schreit und schreit unerbittlich. Julia Larsen redet auf ihn ein, nimmt ihn auf den Arm, legt ihn wieder hin, hebt ihn hoch, geht hektisch hin und her, legt ihn in den Kinderwagen, geht mit Frido spazieren. Nur dann schläft er ein. Drei- mal am Tag schiebt sie ihn von nun an durch den Park am Gleisdreieck. „Ich kannte jeden Mülleimer“, sagt sie. Julia Larsen verliert zehn Kilo, was die normal gebaute Frau mit den dunklen Haaren und den Sommersprossen mager und krank aussehen lässt.

„Ich habe das komplette Internet gelesen, um herauszufinden, warum er so weint“, erzählt sie. Mal schwört jemand in einem Internetforum auf Homöopathie, mal auf Osteopathie. Einer schreibt, sein Kind sei wie ausgewechselt, wenn er den Staubsauger anlasse. Woanders steht, dass Schreibabys eine reizarme Umgebung bräuchten. Also kein Staubsauger, kein Radio, kein Fernseher mehr. Julia probiert alles aus. Nichts hilft.

Julia geht mit Frido zum Kinderarzt. Und schließlich, da ist Frido einen Monat alt, zur Kinderpsychologin. Die mutmaßt, Frido vermisse seine warme Decke, den Schutz, den er in ihrem Bauch gehabt hat. Die Geborgenheit. Nur kann Julia ihm genau das nicht geben. Sie empfindet keine Mutterliebe, das stärkste Gefühl, das die Natur geschaffen hat.

Ihr eigenes kleines Kind fühlt sich so fremd an

Was ist los, was ist falsch mit ihr? Ist Frido mal still, werden ihre Gedanken immer lauter. Neun Monate hat sie ihren Sohn, auf den sie sich so sehr gefreut hat, in sich getragen. Mehr Nähe geht nicht. Aber da ist keine Verbindung. Ihr eigenes Kind fühlt sich fremd an. Julia Larsen versteht Frido nicht, sie weiß nicht, was er braucht, kann ihn nicht beruhigen, obwohl ihre Stimme doch das ist, was er am besten kennt.

Julia mag Regeln. Pläne. Checklisten. Für das Elternsein gibt es aber keine Bedienungsanleitung.

In ihrer Vorstellung von sich als Mutter hatte sie dieses Bild vor Augen: Ein Junge mit blonden Locken, wie Frido sie hat, fällt hin und weint. Julia nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn. Jetzt guckt sie in den Spiegel und weiß nicht, wer diese Mutter ist, die sie da sieht: kreidebleiches Gesicht, eingefallene Wangen, rote, verheulte Augen, auf dem Arm ein schreiendes Baby, das sie wie ein Roboter mechanisch schaukelt. Statt zu lächeln, guckt die Frau, als hätte ihr jemand jegliche Freude aus der Seele gesaugt.

Nie in ihrem Leben hat Julia Larsen auf einen Mann gewartet. Sie war immer stark und unabhängig. Doch jetzt schaut sie ständig auf die Uhr, noch fünf Stunden, noch drei, noch eine Stunde, dann ist es halb sechs und Tom kommt nach Hause. Wenn er Frido hält, ist der wie ausgewechselt. Macht keinen Mucks.

Wenn Julia und Tom mit Frido einen Spaziergang machen, gehen sie nur noch schweigend nebeneinander her. Sehen lachende Mütter, lachende Paare an sich vorbei gehen. Vor Frido sprachen sie stundenlang über Politik, Bücher, Filme, aber Julia ist zu müde zum Reden. Immer wieder entschuldigt sie sich bei Tom, weint, schämt sich. Was sich Tom wohl für Sorgen machen muss, wenn er sie so sieht und erst recht, wenn er bei der Arbeit ist und nicht weiß, was zu Hause vor sich geht. „Am Anfang habe ich gedacht, das ist eine Phase“, erzählt Tom rückblickend, rötliches Haar, Bart, ruhige Stimme.

Ist es nicht.

Sie streichelt ihn, aber bloß aus Pflichtgefühl

Tagsüber hat Julia Angst, dass sie wieder nicht schlafen wird, und nachts davor, mit Frido allein zu sein, wenn er wieder schreit, und jeder Schrei wie ein Vorwurf klingt. „Ich hab gedacht, ich werde verrückt“, sagt sie, während sie vor Fridos leerem weißen Kinderbett sitzt.

Als Julia wieder einmal wach im Bett liegt, ihr Herz pocht, sich der Ring um ihre Brust enger und enger zusammen zieht, denkt sie plötzlich: Was ist, wenn ich nur noch die Augen schließen möchte? Wenn mein Wunsch, endlich zu schlafen, so groß wird, dass ich nur noch schlafen - und nie wieder aufwachen will? Da fängt Frido leise an zu weinen. Julia steht auf. Julia stillt Frido. Julia funktioniert.

Nach zwei Monaten verweist ihre Gynäkologin Julia an eine Psychotherapeutin, die ihr Johanniskraut und ein heißes Bad empfiehlt. In der Wanne denkt Julia aber nur an Frido. Jetzt liegt sie hier, statt sich um ihn zu kümmern. Versagt schon wieder. Julia sagt: „Es ging mir schlecht mit Frido - und schlecht ohne ihn.“

Die Wochen vergehen, ohne dass die schönen Gefühle, die Julia einmal hatte, wiederkommen. Weil es zu anstrengend ist, so zu tun, als wäre es anders, trifft Julia keine Freunde mehr. Sie geht nicht mehr einkaufen. Isst kaum noch.

Julia brüllt nie, tut Frido nicht weh, aber wenn sie mit ihm redet, ihn streichelt, dann nur aus Pflichtgefühl. „Es tut mir leid, so schrecklich leid“, denkt sie dabei. „Ich kann dich bei deinem Start ins Leben nicht so begleiten, wie du es verdient hast. Ich tue dir nicht gut, ich bin eine furchtbare Mutter. Wo kriegen wir nur eine bessere Mutter für dich her?“

Ende September sagt sie dann den Satz, der Tom klarmacht: Das ist hier keine Phase. „Aus dem Nichts heraus meintest du, wir wären besser ohne dich dran“, sagt er heute. Julia hält sich die Hände vors Gesicht, um die Tränen zu verbergen. Sie kann ihren Freund nicht ansehen, so weh tut es ihr, daran erinnert zu werden.

Zu dem Zeitpunkt lassen Tom und ihre Mutter sie nicht mehr alleine. Ihre Mutter spricht es dann zum ersten Mal aus: Depressionen. Als Julia das Wort schließlich aus dem Mund eines Psychologen hört, kann sie es erst nicht verstehen: Sie hatte noch nie eine Krise, nicht einmal, als ihr Vater vor elf Jahren starb. Aber dann fühlt sie sich plötzlich erleichtert. Denn das heißt ja: Sie ist krank. Kein Unmensch.

„Ich wollte so nicht mehr sein“, sagt sie, „ich wollte für meine Familie wieder in die Spur kommen.“ Julia Larsen ruft Kliniken an. Zwei Wochen muss sie warten. Hadert mit sich. Jetzt lässt sie ihr Baby auch noch alleine. Doch ihre Ärztin redet ihr gut zu: So hart es klingt, Abstand ist für beide das Beste.

Was, wenn selbst die Psychiatrie nicht hilft?

Ein Grund dafür, dass Mütter wie Julia Larsen, die nie psychische Probleme hatten, in der Spezialabteilung des Vivantes-Humboldt-Klinikums landen, sind ihrer Ärztin zufolge die überhöhten gesellschaftlichen Erwartungen. „Kein Wunder, dass Frauen schnell glauben, sie machen alles falsch“, sagt sie. Nicht zuletzt die „Regretting-Motherhood-Debatte“ vor zwei Jahren zeigte das: In einer kleinen israelischen Studie gaben 23 Frauen zu, ihre Mutterschaft zu bereuen. Doch nicht in Israel entstand eine heftige wochenlang geführte Diskussion darüber, sondern in Deutschland.

Die ersten beiden Wochen in der Klinik ändern für Julia nichts. Panik befällt sie. Was, wenn selbst die Psychiatrie, das letzte Mittel, nicht hilft? Nicht einmal die Schlaftabletten kriegen Julia dazu, sich zu entspannen. Dann geschieht, was sie nicht mehr für möglich gehalten hat: Sie wird morgens geweckt. „Dieses Gefühl, ausgeschlafen zu sein, war so schön. Das werde ich niemals vergessen.“

Julia bekommt Antidepressiva und Beruhigungspillen. Sie macht Qi Gong, bastelt ein Mobile für Frido, hört Hörspiele, hat jeden Tag Psychotherapie, wo sie über ihren Perfektionismus und ihre Ängste spricht. Die größte ist, dass sie die Mutter-Kind-Bindung für immer zerstört hat. Die ersten Monate, hat sie gelesen, sind doch so wichtig. Bilden die Basis für eine stabile Persönlichkeitsentwicklung. Das Urvertrauen. Prägen das Kind sein Leben lang.

Tom zieht seine Elternzeit vor und kümmert sich um Frido. Schickt Julia Fotos vom Frühstückstisch, besucht sie mit Frido jeden Tag, weil Julia Angst hat, den Kontakt sonst ganz zu verlieren. In der ersten Nacht zu zweit verbannt Tom den Kleinen aus dem Schlafzimmer. „Ich wollte wieder in Ruhe mein Buch lesen“, sagt er schlicht. „Auf einmal hat er durchgeschlafen, war am nächsten Morgen das glücklichste Kind.“ Julia muss schlucken, als er das erzählt.

Sie ist Tom unendlich dankbar. „Andere Männer wären weg gewesen.“

Alles ist gut. Dann setzt Julia die Medikamente ab

Mit dem Schlaf, den Medikamenten, der Verhaltenstherapie, die ihr hilft, gelassener zu sein, kommen in Julia endlich die lang ersehnten Muttergefühle hoch. Wenn Frido lacht oder wie ein Papagei kreischt, ist das auf einmal toll. Sie fühlt sich immer mehr wie die Frau, die sie einmal war, freut sich auf Frido und den nächsten Tag. Erst besucht sie ihre Familie nachmittags, dann übt sie, wieder zu Hause zu schlafen. Nach acht Wochen kommt sie ganz zurück.

Alles ist gut. Ein Jahr lang. Dann setzt Julia die Medikamente ab - und es beginnt von vorne: die Unruhe, die Schlafprobleme, die düsteren Gedanken. Ihre Ärztin schreibt sie für acht Wochen krank. Julia geht wieder zur Therapie. Nimmt seitdem Antidepressiva, die ihre Stimmung aufhellen, sie glücklicher machen. Die Angst vor einem erneuten Rückfall wird bleiben.

„Mama, guck mal. Mama! Mama!“ Frido steht auf dem Sofa und wirft die roten und grünen Kissen auf den Teppich. Fridos erstes Wort war Mama, dann Bahn, Kran, Traktor, erst dann Papa. Wenn Frido sich wehtut, muss Mama kommen. „Mama, meine Mama“, schluchzt er dann, und sie tröstet ihn, so wie sie sich das früher vorgestellt hat. Die beiden kuscheln viel. „Ich genieße die Zeit gerade sehr“, sagt Julia, während sie Frido über seinen Lockenkopf streicht.

Wenn sie Frido beim Spielen zusieht, ist Julia erleichtert, dass er so ein fröhliches, lebhaftes Kind ist. „Eigentlich“, sagt sie, „bin ich mit mir im Reinen.“ Eigentlich habe sie keine Schuldgefühle mehr. Sie gesteht aber auch, dass jede Bemerkung von Freunden, was für ein tolles Kind Frido ist, sie beruhigt. Dass sie nicht weiß, ob sie ihm jemals von seinem ersten halben Jahr erzählen wird. „Vielleicht wenn er 18 ist.“

Es gebe Tage, da denke sie nicht an damals zurück, sagt Julia Larsen. An allen anderen aber schon. Deswegen will sie, auch wenn sie gern ein zweites Kind hätte, keines mehr bekommen.

*Name von der Redaktion geändert

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