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 Expressionistische Trutzburg. 1926 entwarf nach der Künstler selbst sein Anwesen im nachempfundenen Bauhausstil.

© Dirk Dunkelberg/Nolde Stiftung Seebüll

Neue Sicht auf Emil Nolde in Seebüll: Kritische Töne im Künstlerhaus des Expressionisten

Nicht nur harmlose Blumenbilder: Mit der Neugestaltung der Dauerausstellung wird endlich auch die NS-Nähe des Malers thematisiert.

Frischer Wind in der Emil-Nolde-Stiftung Seebüll an der deutsch-dänischen Grenze: Die 67. Jahresausstellung präsentiert wichtige Werke des Malers zusammen mit bedeutenden Neuzugängen aus der Schenkung des Expressionismus-Sammlers Hermann Gerlinger. Die Schau – erneut am angestammten Platz im soeben für acht Millionen Euro renovierten, denkmalgeschützten Wohn- und Atelierhaus des Künstlers – läuft unter der Überschrift „Zurück Zuhause. Emil Nolde – Welt und Heimat“.

Sie hat nicht nur farbenprächtige, ausdrucksstarke Bilder im Gepäck, sondern auch Kontroverses. Denn Noldes Südsee-Darstellungen wie seine aktuell gezeigte „Papuafamilie“ von 1914 werden seit Langem auf kolonialistische Aspekte und ihren möglicherweise rassistischen Charakter durchmustert. Bisher galt, dass Emil Nolde (1867-1956) die Folgen des Kolonialismus für indigene Völker seinerzeit deutlich kritisierte, aber den Kolonialismus selbst nicht infrage stellte.

Stiftungs-Direktor Christian Ring fordert jetzt die Besucher ausdrücklich zu eigener Awareness auf, indem er unter Hinweis auf die gezeigten Nolde-Porträts fragt: „Gibt es Unterschiede in der Darstellung der Menschen aus Spanien, Japan und Papua-Neuguinea im Vergleich zur Darstellung von Menschen seiner Heimat?“

Der Kunsthistoriker leitet seit einem Jahrzehnt die Stiftung in Seebüll und hat 2019 im Berliner Museum Hamburger Bahnhof als Ko-Kurator und Leihgeber der Ausstellung „Emil Nolde – eine deutsche Legende“ Furore gemacht: Sie thematisierte Noldes NS-Nähe, nachdem Ring die bislang unzugänglichen Archive mit rund 30.000 Dokumenten geöffnet hatte. Die Forschung unter seinem Vorgänger Manfred Reuther konzentrierte sich bis dahin vor allem auf Noldes Skandinavien-Bezüge und die Brücke-Maler sowie das Problem von Fälschungen 

Die nun mögliche Recherche der beiden Berliner Wissenschaftler Bernhard Fulda und Aya Soika führte zur Dekonstruktion des von Nolde  zeitlebens inszenierten Eigen-Mythos als verkannter, verfolgter, widerständiger Künstler. Seit der Berliner Ausstellung spricht auch die Stiftung offen über Noldes NS-Verstrickung und „umgeformte Biografie“. Dass Nolde sich dem Regime andiente, Andere denunzierte und es so schaffte, dass seine Werke aus der Ausstellung „Entartete Kunst“ herausgenommen wurden, ist heute auf einer Tafel im Besucherforum und auf der Webseite der Stiftung zu lesen.

30.000
Dokumente sind seit 2013 im Nolde-Archiv für die Forschung zugänglich.

Das neue Problembewusstsein nötigte nicht nur 2019 Bundeskanzlerin Angela Merkel, zwei Nolde-Gemälde in ihrem Büro abzuhängen. Auch in der Öffentlichkeit wuchs die kritische Sicht auf Noldes Kunst, die Stiftung bemüht sich um mehr Transparenz und Gegenwartsbezug.

Die Präsentation „Welt und Heimat“ verknüpft 130 Nolde-Exponaten mit aktuellen Problemen: 49 Gemälde sowie 67 Aquarelle und Druckgrafiken aus allen Schaffenszeiten, darunter 43 Gerlinger-Zugewinne. Für Stiftungs-Chef Christian Ring war der Ausgangspunkt die Frage, „welche Aktualität hat der Blick des Künstlers Emil Nolde für unsere Gegenwart?“

„Boot im Schilf“ aus dem Jahr 1909 von Emil Nolde.

© Dirk Dunkelberg/Nolde Stiftung Seebüll/VG Bild-Kunst 2023

Der Begriff „Zuhause“ habe durch die Pandemie neue Bedeutung erhalten. Zudem verloren viele Menschen heute durch Kriege und Naturkatastrophen ihr Zuhause und befinden sich auf der Flucht.

Die Schau hinterfrage deshalb, wie der auf einem benachbarten Bauernhof aufgewachsene Nolde sein Zuhause im Vergleich zum menschlichen Leben in der Ferne, das er auf seinen weltweiten Reisen kennenlernte, in seiner Malerei verarbeitet habe.

Der Weg durch das von Nolde 1926 entworfene Anwesen im nachempfundenen Bauhausstil beginnt im neuen Eingangsbereich, an den sich die original möblierten Wohnräume von Emil Nolde und seiner Frau Ada anschließen. Nebenan im ehemaligen Atelier, Noldes „Werkstatt“, sind die religiösen Bilder ausgestellt, darunter das neunteilige „Leben Christi“ von 1911/12.

Der „Bildersaal“, das „Herzstück des Hauses“ im Obergeschoss, versammelt dicht gehängt den Großteil der Jahresschau: norddeutsche Landschaften, Reisebilder aus Italien und der Südsee, Figuren, Porträts, Blumen aus der Heimat und von weither.

Für Motive wie „Herbstmeer“, „Lichte Dahlien und Sonnenblumen“ oder „Boot im Schilf“ aus der Gerlinger-Donation wird Nolde weiterhin uneingeschränkt geliebt. Das Rüttebüller Boot auf einem See ganz in der Nähe wurde inzwischen als Jahresgabe seinem gemalten Vorbild von 1909 in Keramik nachempfunden und macht so Noldes Darstellung haptisch erfahrbar. Am 14. April jährt sich der Todestag des Künstlers zum 67. Mal. Die heutige Aufstellung seiner Stiftung mit sanierter Räumlichkeit und Offenheit gegenüber der eigenen Geschichte erlaubt nunmehr einen zeitgemäßen Zugang zu Noldes Werk.

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