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Familie und Beruf vereinen? Oft ein Faktor für Stress

© dpa/Marijan Murat

Beruf und Familie: Raus aus der Rushhour des Lebens

Zeitnot und Überforderung entstehen aus dem Versuch, Familie und Beruf vereinen zu wollen. Das Nacheinander-Prinzip ist die Lösung. Ein Essay.

Nehmen wir meine Schulfreundin Marie. Sie ist 36 Jahre alt, hat einen Franzosen geheiratet, beide sind aufstrebende Ingenieure. Marie arbeitet als Managerin bei der französischen Eisenbahn. Sie managt den Bahnhof von Toulouse, hat 230 Leute zu beaufsichtigen. Sie stellt sicher, dass die Züge auf den richtigen Gleisen einfahren, die technischen Störungen behoben werden, dass der Bahnhof sauber ist, die Geschäfte pünktlich öffnen. Außerdem überwacht sie den Bau einer neuen TGV-Trasse.

Ein ganz normaler Tag in ihrem Leben sieht so aus: Sie hetzt früh los, um ihre beiden Kinder, ihre fast dreijährige Tochter und einen sechs Monate alten Sohn, in die Krippe zu bringen, dann gleich weiter ins Büro. Dort muss sie als Erstes die Gleisarbeiter beschwichtigen, denn für den kommenden Tag ist ein Streik angekündigt. Es folgt ein Meeting nach dem anderen. Um 17 Uhr hetzt sie zurück zur Krippe, um ihre beiden Kinder abzuholen. Sie bugsiert die Babyschale in den Van, lässt ihre Aktentasche auf dem Autodach liegen und merkt erst zu Hause, dass sie fehlt. Sie kehrt um, findet sie, macht noch ein paar Einkäufe auf dem Weg, kocht dann ein warmes Abendessen, badet die Kinder, schläft beim Vorlesen in Kleidern ein, wacht um Mitternacht wieder auf und spült die schmutzigen Töpfe ab.

Eher ein logistisches Problem als ein Glücksversprechen

Vereinbarkeit ist ein beschönigendes Wort für etwas, das sich in Wirklichkeit oft anfühlt wie Zerrissenheit. Heute fällt die Zeit der Familiengründung mit der beruflichen Profilierung beider Eltern zusammen. Zeitnot und das ständige Gefühl von Überforderung sind die Folge. Kinder, Partnerschaft: ein logistisches Problem statt Glücksversprechen! Am Arbeitsplatz muss man so funktionieren, als hätte man keine familiären Aufgaben. Und wenn die Großeltern nicht mehr helfen können, sondern selbst hilfsbedürftig werden, bewegt sich die „Generation Sandwich“ hart an der Grenze der eigenen Belastbarkeit.

Phasen der Entspannung und der äußersten Anspannung aller Kräfte sind heute zu ungleich über den Lebenslauf verteilt. Im Alter haben die meisten Menschen weniger Verantwortung, als gut für sie wäre. Die Pubertät wird in die Länge gezogen, die Familiengründung immer weiter hinausgezögert – aus Angst vor Festlegung und den anstrengenden Aufgaben, die sich in der Lebensmitte drängeln. Den richtigen Partner finden und „ding- fest machen“, solange die biologische Uhr noch tickt. Familie gründen, sich hingebungsvoll um die eigenen Kinder kümmern.

Ein Zuhause schaffen, bauen, renovieren, einrichten. Für das Alter vorsorgen. Alles geben im Beruf, zwei Karrieren voranbringen, wenn nötig sogar umziehen und pendeln. Dabei gut aussehend und sportlich sein, kulturell und politisch auf dem Laufenden bleiben. Wie soll man das alles gleichzeitig schaffen und bewältigen? Das ist kaum möglich.

Der Familiensoziologe Hans Bertram hat dieses Phänomen die „Rushhour des Lebens“ genannt. Noch treffender finde ich es, von einem „Gleichzeitigkeitswahn“ zu sprechen: weil es wahnsinnig ist zu glauben, dass moderne Mütter all das gleichzeitig leisten könnten, was sie leisten müssten, um in Familie und Beruf ihr „Soll“ zu erfüllen.

Frauen werden nicht ermutigt, Familienphasen einzulegen. Weil die ökonomische Faktenlage es so will: Die Sozialforscherin Ute Klammer etwa, die 2011 im Auftrag des Familienministeriums am ersten Gleichstellungsbericht mitgeschrieben hat, warnt vor längeren Erwerbspausen. Mütter, die über das gesetzlich zugesicherte Maß hinaus dem Arbeitsmarkt fernbleiben, haben oft ein sehr geringes Lebenserwerbseinkommen. Und das Armutsrisiko ist groß, vor allem wenn sie sich scheiden lassen und als Alleinerziehende große Lasten schultern müssen.

Ein unrealistisches Bild von Vereinbarkeit

In Deutschland werden heute 49 Prozent der Ehen geschieden, in Belgien, wo beide Eltern in der Regel Vollzeit arbeiten, sind es sogar 71 Prozent. Natürlich gibt es immer persönliche Gründe für das Scheitern von Beziehungen. Aber sie scheitern auch, weil die Druckzustände der Rushhour so schwer auszuhalten sind. Und weil die Paare ein unrealistisches Bild von Vereinbarkeit im Kopf haben, dem nur Supermänner und Superfrauen gerecht werden könnten. Ein familienpolitischer Diskurs, der dieses unrealistische Bild zum Leitbild erhebt, ist gefährlich und alles andere als nachhaltig. Er führt nämlich dazu, dass viele Frauen sich als Versagerinnen fühlen. Sie können sich abrackern, wie sie wollen. Sie haben trotzdem das Gefühl, immer im Defizit zu sein: die Kinderlosen, weil sie Teil der demografischen Krise sind. Die hauptberuflichen Mütter, weil sie kein Geld in die Rentenkasse einzahlen. Und die berufstätigen Mütter, weil sie im Büro weniger verfügbar sind als die kinderlosen Kolleginnen und ihren Kindern weniger Aufmerksamkeit schenken können als die hauptberuflichen Mütter.

Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat analysiert, dass berufstätige Mütter heute mindestens in zwei Schichten arbeiten: die erste Schicht am Arbeitsplatz und die zweite zu Hause. Wenn sie Pech haben, kommt auch noch eine dritte Schicht hinzu: die Auseinandersetzung mit den negativen Folgen ihrer Abwesenheit, der erschöpfte Kampf gegen die Traurigkeit, Wut und Verweigerungshaltung ihrer Kinder.

Inzwischen nimmt jeder dritte Vater Elternzeit, in der Regel allerdings nicht länger als zwei Monate, was auch zeigt, welches Männerbild in Deutschland herrscht. Der Mann muss arbeiten, aufsteigen und funktionieren, außerdem noch, so viel es geht, Vater sein und wenigstens symbolisch im Haushalt helfen. Und weil das natürlich auch eine Überforderung ist, kriechen Väter und Mütter gleichermaßen auf dem Zahnfleisch, vermuten aber ständig, der andere habe in diesem Rollenspiel den leichteren Part.

Wenn aber Mütter kurz nach der Geburt ihrer Kinder ins Erwerbsleben zurückkehren und Väter zu Hause nicht einspringen können, ist man beim „Outsourcing“ angelangt. Dann sollen Tagesstätten, Tagesmütter, Nannies und Au-pairs die Lücke füllen, die die übermäßige Berufstätigkeit der Eltern hinterlässt. Geht das? Und bedeutet Familienmanagement dann nicht, dass immer weniger Familie und immer mehr Management stattfindet? Sehr viel Organisation, rings um eine leere Mitte?

Einen gelassenen Umgang mit Beruf und Familie schaffen

Immer größere Teile des familiären Lebens werden outgesourcet

Im Jahr 2012 hat Hochschild in den USA ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Das outgesourcete Selbst“. Was passiert, wenn wir andere Leute dafür bezahlen, dass sie unser Leben leben? In diesem hochinteressanten Buch beschreibt sie, dass Aufgaben, die früher das „Kerngeschäft“ der Familie waren, heute zunehmend an externe Dienstleister vergeben werden. Weil den Eltern einfach die Kraft fehlt, sie noch selbst zu übernehmen.

Immer größere Teile des privaten und familiären Lebens werden zu Markte getragen: Das Kleinkind? Zack, zur Tagesmutter. Der demente Opa? Zack, ins Altenheim. Die kriselnde Ehe? Zack, zum Therapeuten. Das warme Mittagessen? Wird in verschiedenen Kantinen eingenommen. Der Einkauf? Wird per Internet bestellt. Die Hemden? Werden in der Reinigung gleich gebügelt. Die Herbstferien? Gestaltet der Trainer im Fußballcamp. Der Kindergeburtstag? Organisiert das Team in der Kletterhalle.

Eine andere Folge des Gleichzeitigkeitswahns ist, dass mancher Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Viele junge Paare träumen von einer großen Familie, trauen sich aber nicht, mehr als ein oder höchstens zwei Kinder zu bekommen. Sie haben panische Angst, sonst den Anforderungen ihres Berufs nicht mehr gerecht zu werden und aus allen Karriere-Rastern herauszufallen, und zwar für immer.

Und wenn die Kinder flügge werden und aus dem Nest hüpfen, sind die Eltern plötzlich traurig. Weil sie nicht richtig „satt“ geworden sind als Mütter oder Väter. Weil sie die Erfahrung, für Kinder zu sorgen, doch gerne mehr ausgekostet hätten.

Wer Erwerbstätigkeit und Erziehungsleistung kombinieren will, kombiniert auch den Stress aus beiden Bereichen

Das ist das Problem bei dem Modell des „Adult Worker“, das in familienpolitischen Kreisen viel diskutiert wird: Wenn Vater und Mutter zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens Erwerbstätigkeit und Erziehungsleistung kombinieren wollen, dann kombinieren sie auch den Stress aus beiden Bereichen: den Stress der Deadlines, der ständigen Meetings, der Telefonate in überfüllten Zugabteilen, der hastig verschlungenen Brötchenhälften. Den Stress der durchwachten Nächte, der streitenden Geschwister, der Trotzanfälle und der umgestoßenen Gläser. Und den Stress, zwischen zwei ganz verschiedenen Zeitgefühlen zu vermitteln.

Nun ist das kindliche Zeitempfinden wie ein langsamer, ruhiger Fluss. Es ist schön, wenn Eltern die Gelegenheit haben, mit offenen Augen an seinem Ufer entlangzugehen – und wartend zu sehen, wie lange ihre Kinder spielen, streunen, staunen, toben, trödeln und träumen wollen. Aber wenn alles gleichzeitig stattfinden muss, die Familiengründung und die berufliche Profilierung von beiden Eltern, dann heißt das auch, dass sie diese Gelegenheit nicht mehr haben. Und dass die Kindheit ihren freien und fließenden Charakter verliert.

Aber warum eigentlich diese Ungeduld, warum die Eile? Die Lebenserwartung von Männern bei Geburt lag 2015 bei 78,4, die Lebenserwartung bei Frauen bei 83,4 Jahren, Tendenz steigend. Seit dem Jahr 1900 ist die Lebenserwartung beider Geschlechter um rund 40 Jahre gestiegen. Und seit dem Jahr 1950 haben sowohl die Männer als auch die Frauen rund 15 Jahre Lebenszeit hinzugewonnen.

Das Nacheinander-Prinzip ermöglicht einen gelassenen Umgang mit Familie und Beruf

Was mir vorschwebt ist daher das Nacheinander-Prinzip. Leben wir nach diesem Prinzip, können wir unsere Kinder in Ruhe begleiten, ohne dafür mit zwei Jahrzehnten der Langeweile zu büßen. Und wir können uns beruflich verwirklichen, ohne den mörderischen Stress der Rushhour zu erleiden. Es schenkt uns einen gelasseneren Umgang mit Familie und Beruf. Und zwar besonders in Konstellationen, wo Gleichzeitigkeit misslingt: wenn beide Partner sowohl starke berufliche Ambitionen haben als auch eine anspruchsvolle Vorstellung von Erziehung und Familienleben. Wenn sie sich mehr als ein oder zwei Kinder wünschen.

Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird von zwei Faktoren bestimmt, von der demografischen Entwicklung und von der Digitalisierung. Frauen und Männer werden älter, sie sind länger leistungsfähig. Und die Berufe verändern sich so, dass körperliche Kraft und Ausdauer eine immer kleinere Rolle spielen. Viele Arbeitnehmer können und wollen länger arbeiten und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Deshalb sollte man das Alter für den Renteneintritt hochsetzen und zugleich flexibilisieren.

Das höhere Renteneintrittsalter ist gut für das Nacheinander-Prinzip, weil es sich dann noch mehr lohnt, in den Wiedereinstieg nach Familienphasen zu investieren. Es lohnt sich für die Mütter, die Väter, den Staat und die Unternehmen. Noch zwanzig, dreißig, manchmal vierzig Jahre Berufstätigkeit vor sich zu haben, das ist eine verdammt lange Zeit!

Die Motive des Staates liegen auf der Hand: Wenn es den Müttern gelingt, auf ihrem Qualifikationsniveau in einen lukrativen Job einzusteigen, wächst das Bruttosozialprodukt, steigt das Steueraufkommen und die Frauen können für ihre eigene finanzielle Absicherung sorgen. Zugleich sinkt die Gefahr, dass der Staat aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Altersarmut für sie aufkommen muss.

Viele Frauen müssen einen langen Atem haben, um ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen. Aushalten, dass es viele Jahre gab, in denen das, was sie taten, zunächst nach nichts aussah. Und auch offiziell nichts galt. Obwohl es doch so wichtig war und so wertvoll. Also: Freuen wir uns an unseren lieben, prächtigen, unausstehlichen Kindern, solange sie noch bei uns zu Gast sind!

An die, die noch keine haben und zurückschrecken vor dem vermaledeiten Vereinbarkeitsproblem: Seid beherzt! Und eins nach dem anderen.

Lassen wir doch die Ängste hinter uns, die Angst, zu spät zu kommen und etwas zu verpassen. Die Angst, nicht perfekt zu sein und zu versagen. Es gibt so viel mehr Wege, beruflich erfolgreich zu werden, nicht nur die konventionellen, so viele Plätze, wo kluge, gütige und fähige Menschen gebraucht werden. Legen wir los und gucken, was geht!

Eva Corino

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