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Gegen rechte Ausschreitungen in Chemnitz: Kundgebung Ende August 2018 vor der Sächsischen Landesvertretung in Berlin.

© Christian Mang/Imago

Drastischer Anstieg der Gewalt: Der rechte Mob tobt sich in Sachsen aus

Die Zahl rechter Gewalttaten steigt binnen eines Jahres um 38 Prozent, Schwerpunkt ist Chemnitz. Es gibt sogar ein neues Todesopfer, das 17. seit 1990.

Von Matthias Meisner

Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping mag nichts beschönigen. "Die Kräfte und Strukturen von rechts bedrohen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft", sagt die SPD-Politikerin zur Statistik der Opferberatung des Vereins RAA Sachsen, laut der rechte Gewalttaten im Freistaat binnen eines Jahres um 38 Prozent gestiegen sind - von 229 Gewalttaten im Jahr 2017 auf 317 Gewalttaten im Jahr 2018. "So bitter es auch ist, in Sachsen gehören rechte und rassistische Gewalt zur Lebensrealität. Es gibt keinen Grund, dies zu beschönigen", sagt Köpping.

Laut der am Donnerstag veröffentlichten Statistik fällt der Zuwachs am deutlichsten in Chemnitz aus: von 20 auf 79 Gewalttaten. Dies ist in erster Linie im Zusammenhang mit den rechten Ausschreitungen in Chemnitz im August/September 2018 nach dem Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. zu begründen. Ein ebenfalls großer Anstieg ist im Landkreis Nordsachsen zu verzeichnen, die Zahl erhöhte sich von sieben auf 23 Taten. Bei den landesweit 371 Angriffen wurden 481 Betroffene gezählt. 208 Taten waren rassistisch motiviert, 54 richteten sich gegen politische Gegner, 55 wurden aus anderen menschenverachten Motiven verübt. In 79 Fällen handelte es sich laut der Erhebung um Nötigungen oder Bedrohungen, in 223 um Körperverletzungen.

17 Todesopfer seit 1990 in Sachsen

Ein schwerwiegender Fall rechtsmotivierter Gewalt wurde laut RAA Sachsen kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen: Am 17. April 2018 wurde demnach der 27-jährige Christopher W. von drei Tätern, die der rechten Szene zuzuordnen sind, brutal getötet. Aufgrund seiner sexuellen Orientierung hätten ihn die Täter, mit denen er bekannt war, immer wieder als "Schwuchtel" beschimpft, ihn geschlagen und mehrfach verletzt. Christopher W. ist nach 30 Jahren Wiedervereinigung das 17. Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen.

Rassismus in Chemnitz

Besonders zu Chemnitz zeichnet die Opferberatung ein erschütterndes Bild: "Mehrere tausend Rassistinnen und Rassisten, Rechte und Neonazis gingen mehrere Tage in Chemnitz auf die Straße, bei Demonstrationen von AfD, Pro Chemnitz und Pegida instrumentalisierten sie die Tötung eines Menschen um gegen Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten, Linke und Medien zu hetzen und Gewalt auszuüben", berichtet die Organisation. In der Folge hätten sich rassistisch motivierte Attacken in der Stadt gehäuft, Anschläge auf Restaurants. Eine Gruppe Neonazis ging als "Bürgerwehr" gegen Migrantinnen und Migranten vor, bis sie wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung festgenommen wurde.

Laut Statistik der Opferberatung stieg die Zahl rechter Gewalttaten in Sachsen binnen eines Jahres um 38 Prozent an.
Laut Statistik der Opferberatung stieg die Zahl rechter Gewalttaten in Sachsen binnen eines Jahres um 38 Prozent an.

© RAA Sachsen

Detailliert dokumentiert wird von der Opferberatung eine Reihe von Einzelfällen. So ein Fall vom 18. Juli aus Leipzig: Ein 40-jähriger alkoholisierter Mann zeigte zunächst den Hitlergruß in Richtung zweier Syrer (15 und 20), bedrohte diese anschließend und schlug einem der beiden ins Gesicht. Am 28. November forderte ein Mann in einer Straßenbahn in Dresden lautstark, dass alle Ausländer die Straßenbahn zu verlassen hätten - und verletzte einen 40-jährigen Libyer, der ihn zur Rede gestellt hatte. 23. Februar, Wurzen im Landkreis Leipzig: Eine im 7. Monat schwangere Frau aus Eritrea wird offenbar direkt vor ihrem Wohnhaus von zwei Personen beleidigt, geschlagen und getreten. Die Aufzählung ist unvollständig.

Der Anteil der Fälle, in denen Anzeige erstattet wurde, beläuft sich wie auch in den zurückliegenden Jahren bei circa 75 Prozent. Konkret 241 der Angriffe im Jahr 2018 sind polizeibekannt, lediglich 39 wurden nicht angezeigt, in 37 Fällen ist es nicht bekannt. Von diesen 241 polizeibekannten Gewalttaten sind aktuell 154 Fälle auch offiziell als "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) rechts gewertet, wie sich aus den Auskünften des sächsischen Innenministeriums auf Anfragen im Landtag ergibt.

Sieben rechtsmotivierte Straftaten pro Tag

Derweil veröffentlichte die sächsische Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz eine Statistik zu den rechtsmotivierten Straftaten. 2018 wurden in Sachsen insgesamt - so Köditz unter Berufung auf die Angaben der Staatsregierung - 2489 von den Behörden gezählt, also knapp sieben Fälle pro Tag.

Die Linken-Politikerin berichtet: "Damit wird aufgeschlossen zu den besonders hohen Fallzahlen 2015 und 2016. Im Jahr 2017 hatte sich mit ,nur‘ rund 2000 Fällen – das entspricht etwa dem langjährigen Mittel – eine gewisse Entspannung angedeutet. Aber das war offenbar keine Trendwende." Die Abgeordnete weist darauf hin, dass es im Vergleich zu den Erhebungen der Opferberatung "ein großes Dunkelfeld" gebe.

Die Taten verteilen sich auf rund 50 Straftatbestände. Rund Dreiviertel der Fälle – das entspricht dem langjährigen Erfahrungswert – sind Propagandadelikte, vor allem Volksverhetzungen und Nazisymbole. Wenn die Fallhäufigkeit (Taten pro 100.000 Einwohner) betrachtet wird, liegt wie in der Statistik zu rechten Gewalttaten die Stadt Chemnitz (140 Fälle) deutlich vorn – der Wert beträgt fast das Doppelte der Vorjahreszahl (78) und auch des aktuellen sachsenweiten Durchschnitts (76).

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