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Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos: Griechenland lehnt viele Dublin-Aufnahmen ab, weil es keine Kapazitäten hat.

© Angelos Tzortzinis/dpa

Migration innerhalb Europas nimmt zu: Warum das Dublin-Asylsystem nicht funktioniert

Nach dem Dublin-Verfahren kann Deutschland Asylsuchende in Erstaufnahmeländer abschieben. Neue Zahlen zeigen: 14 Prozent von ihnen kommen wieder zurück.

Was die Bundesregierung auf die Anfrage der Linken-Fraktion antwortete, war bezeichnend: Lediglich sechs unerlaubt nach Deutschland weitergereiste Zuwanderer brachte die Bundesrepublik 2018 nach Griechenland zurück. Dabei ist der Mittelmeerstaat eigentlich für die Asylverfahren derer zuständig, die in Griechenland erstmals europäischen Boden betreten haben. Doch Griechenland sträubt sich gegen dieses „Dublin-System“ – und lehnte 97 Prozent aller Rücknahmeersuchen ab.

Dazu kommt: In Deutschland kamen 2018 mehr Zuwanderer an, als insgesamt in die EU einreisen. Das zeigt, wie stark die sogenannte „Sekundärmigration“ ist – also das Phänomen, dass Menschen, die über die Mittelmeerstaaten nach Europa reisen, keineswegs in diesen Ländern bleiben.

Dem Tagesspiegel liegt zudem eine Antwort auf eine schriftliche Frage der FDP-Abgeordneten Linda Teuteberg vor. Aus dieser geht hervor, dass 14 Prozent aller Menschen, die von Deutschland nach dem „Dublin-System“ in ihre Erstaufnahmeländer zurückgebracht werden, später wieder nach Deutschland einreisen.

Deutschland verweist auf die EU

Die Zahlen zeigen: Auch wenn weniger Menschen in Europa ankommen als zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, das Asylsystem funktioniert nicht. Und das, obwohl sich die EU seit Jahren darum bemüht, es zu reformieren. Woran hakt es?

„Das Dublin-System hat noch nie funktioniert“, sagt Gerald Knaus, einer der besten Kenner des europäischen Asylsystems. „Zu keiner Zeit ist es gelungen, die Menschen in ihre Erstaufnahmestaaten zurückzuschicken. Aber solange vor 2014 die Zahlen der Ankommenden niedrig waren, hat kein Mitgliedsstaat wirklich ein Problem gehabt.“ Knaus ist der Erfinder des sogenannten „Türkei-Deals“. Also des Abkommens, das vorsieht, dass Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden können. Im Gegenzug nimmt die EU syrische Flüchtlinge aus der Türkei auf und stellt der Türkei Geld zur Verfügung. Knaus sagt, wenn es um Verbesserungen beim Asylsystem gehe, verweise die Bundesregierung seit 2015 auf eine europäische Lösung. „Aber die EU-Kommission hat vier Jahre damit verbracht, realitätsferne Vorschläge zu machen.“

„Potemkinsches Dorf“

Tatsächlich stockt die Arbeit an einer Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) seit Jahren – und immer wieder an einem Streitpunkt: der Verteilung der Flüchtlinge zwischen den EU-Mitgliedstaaten beziehungsweise ihrer Unmöglichkeit. Ein hoher Beamter der Brüsseler Migrationsdirektion nannte das GEAS im Gespräch mit dem Tagesspiegel ein „Potemkinsches Dorf, das schon dem ersten Sturm nicht standhielt“.

Nach dem Höhepunkt der Migrationskrise ging die EU-Kommission an die Reparaturarbeit, die aber nicht besonders ehrgeizig ausfiel. Statt Vorschläge für eine Reform des Kernproblems – die Dublin-Verordnungen, die dem Staat nach der Ankunft von Geflüchteten auch die Verantwortung für deren Asylverfahren aufbürden – schlug sie lediglich Erleichterungen vor.

Mit Hilfe eines „Fairness-Mechanismus“ sollte besser und automatisiert festgestellt werden, welche Staaten besonders unter Druck standen und ihnen dann geholfen werden. Demgegenüber schlug das Europäische Parlament eine Grundrenovierung des Dublin-Systems vor, dessen Kernfehler es klar formulierte: „Dublin war nie gedacht, die Verantwortung zu teilen, sondern den einzelnen Mitgliedsstaaten Verantwortung für die Asylverfahren zuzuordnen.“

Der riesige, kräfteraubende und unregierbare Verschiebebahnhof, der das Dublin-System ist, wurde kürzlich wieder in einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag sichtbar. Zwischen den EU-Staaten gehen Anfragen hin und her, ob ein Migrant nicht in Wirklichkeit von den anderen aufgenommen werden müsste.

Dass Griechenland im vergangenen Jahr fast alle Ersuchen Deutschlands ablehnte, geschah mit der Begründung, dass man entweder keine Unterbringungsmöglichkeiten für die Menschen habe oder zweifelte, ob sie wirklich über Griechenland eingereist waren. Umgekehrt wollte Athen 2139 Migranten an Deutschland loswerden, Berlin lehnte aber in 1496 Fällen ab.

An Länder wie Ungarn gibt es ohnehin keine „Überstellungen“, da Budapest seit Mai 2017 keinerlei Übernahmezusagen mehr macht. „Staaten unter populistischen Regierungen wie Ungarn und Italien haben heute die Strategie, Menschen so schlecht zu behandeln, dass kaum noch jemand einen Asylantrag stellen will. So klinken sie sich praktisch aus dem Dublin-System aus“, sagt Migrationsexperte Knaus. Auch für Griechenland schaffe Dublin einen Anreiz, Bedingungen eher nicht zu verbessern. „Das ist ein perverser Effekt. Aus dieser Logik muss man ausbrechen.“

Vorschlag des EU-Parlaments: Migranten einbeziehen

Die Totalrevision, die das EU-Parlament vorschlägt, würde mit einer zentralen europäischen statt nationalen Zuständigkeit für die Registrierung von Geflüchteten und Migranten beginnen – und dabei erstmals auch deren eigene Wünsche berücksichtigen. Der Vorschlag, den die Straßburger Abgeordneten 2017 in die Verhandlungen gaben, macht die „tatsächliche Bindung“ eines Neuankömmlings an einen bestimmten Mitgliedsstaat, also Familie, Sprachkenntnisse, Unterkunftsmöglichkeiten, zum ersten Kriterium der Verteilung. Wer eine solche  Bindung nicht hat, wird auf die Staaten mit den niedrigsten Migrantenzahlen verteilt – wobei sie oder er unter vier solcher Länder die Wahl hat. Die Wünsche der Betroffenen einzubeziehen, sehen Migrationsfachleute schon lange als das eigentliche Mittel, die gefürchtete Sekundärmigration zu verhindern, also das behördlicherseits unerlaubte Wechseln in einen anderen EU-Staat nach der Erstregistrierung. Deren Bekämpfung lähmt die Verwaltungsarbeit, ohne dass sich ihr beikommen ließe – siehe Griechenland – und das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bürokratie und Betroffenen verhindert, dass die sich rasch in Europa integrieren.

Doch das vom Parlament vorgeschlagene System würde genau jene Solidarität der EU-Hauptstädte erfordern, die es nicht gibt. Entsprechend hängt das GEAS der Zukunft weiter in der Luft. Im Europäischen Rat wird über die Vorschläge von Kommission und Parlament diskutiert. Seit inzwischen zwei Jahren.

„Es ist fahrlässig, daran festzuhalten“

Gerald Knaus glaubt, dass das Dublin-System gescheitert ist. Seine Prognose: „Es wird keine europäische Lösung aller 27 geben.“ Es brauche eine Koalition von Staaten, die bereit seien zu kooperieren und die mit Herkunftsländern in Westafrika Abkommen analog zum EU-Türkei-Deal schlössen. Zudem schlägt Knaus Erstaufnahmeeinrichtungen an den EU-Außengrenzen vor, wo innerhalb von zwei Monaten über Asylanträge entschieden wird.

Von hier aus könnten die angenommenen Asylbewerber innerhalb dieser europäischen Koalition verteilt werden. Die anderen würden zurückgeschickt. Knaus glaubt, dass sich dann viele gar nicht erst auf den Weg machen würden. „Die humane Form der Entmutigung ist ein schnelles faires Verfahren und eine schnelle Zurückführung. Wie man das hinbekommt, müsste im Zentrum der Diskussion stehen.“, sagt Knaus. Deutschland und Frankreich sieht er dabei als enorm wichtige Akteure. Seinen „Merkel-Macron-Plan“ bewirbt er unter deutschen und französischen Politikern.

Auch die Grünen-Migrationspolitikerin Luise Amtsberg sagt: „Wir haben bereits 2015 gesehen, dass das Dublin-System nicht funktioniert. Es ist fahrlässig, daran festzuhalten.“ Aus ihrer Sicht ist es aber wichtig, mit allen Staaten im Gespräch zu bleiben, selbst wenn sie nur wenige Flüchtlinge aufnehmen. Man solle zudem positive Anreize setzen – zum Beispiel für Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen. „Es schafft Akzeptanz wenn von den durch die EU geförderten Maßnahmen vor Ort Geflüchtete und die heimische Bevölkerung profitieren.“

Die FDP-Abgeordnete Linda Teuteberg ist dafür, weiter eine europäische Lösung anzustreben. Gleichzeitig müsse Deutschland an sich arbeiten. Viele Rücküberstellungen scheiterten auch deshalb, weil sie nicht innerhalb der vorgegebenen Frist von sechs Monaten erfolgen. „Es sendet ein fatales Signal und schadet der Akzeptanz des Asylsystems, wenn rechtsstaatliche Verfahren nicht konsequent durchgeführt werden“, sagt Teuteberg.

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