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© Thilo Rückeis

Feinkost und Finanzkrise: Fisherman’s Friend

Rogacki, die West-Berliner Feinkost-Institution, feiert ihr 80. Firmenjubiläum. Und wo bleibt die Krise? Die Krise muss draußen bleiben.

Da haben wir es wieder, dieses Rogacki-Gefühl, gleich beim ersten Atemzug. Das gibt’s in München nicht, bei Dallmayr oder beim Schickimicki-Käfer, weder bei Zabar’s noch bei Katz’s in New York und auch nicht am Wiener Nasch-Markt. Das riecht nach Fisch und Rauch und Blut vom fangfrischen Hasen und, bei ungünstigen Ladenwinden, auch mal nach Fritteuse und Plastikschürze und glitschigen Kacheln. Die fetten Weihnachtsgänse aus dem Oldenburgischen lagern im Schaufenster wie deutsche Urlauber auf Mallorca, und drüben am Gourmet-Stand kommt Witta mit dem blond toupierten Haar langsam in Fahrt, hallo Schatzi hier, hallo Schatzi da und eine erste Runde mit der Weinflasche jongliert. The same procedure as every year? The same procedure as every year. Nur dass Rogacki in diesem Jahr nicht den 90. Geburtstag feiert, sondern seinen 80.

Rogacki ist ein bisschen wie das Café Keese oder das Kabarett der „Stachelschweine“, eine West-Berliner Institution mit Haut gôut, eine Arena des Alltags, ein Wohnzimmer auf Zeit. Das ist ja der Reiz: Man schwelgt und schwatzt und blickt Witta tief in die Augen, dann trinkt man aus und geht in sein eigenes Leben zurück. Deshalb, ganz wichtig bei aller Heimeligkeit und kondensierenden Weihnachtsdeko, isst man hier auch im Stehen. Als wäre der kleine Luxus, den man sich leistet, vor der Arbeit, nach der Arbeit, am Samstagnachmittag, wenn es hier so richtig brummt, immer auf dem Sprung.

Seit 80 Jahren macht Rogacki in Räucherfisch und Aal, irgendwann kamen Fleisch, Wild und Geflügel hinzu und noch etwas später Käse, Wein, „Backshop“ und „Pasta-Ecke“. Und wer unbedingt will, der kriegt hier sogar ein Dessert. Das nennt sich dann Tiramisu- Mousse und schmeckt genauso: süß, sahnig, sättigend. Das Leben, sinniert Geschäftsführer Dietmar Rogacki, sei doch zunächst ziemlich krisenresistent. Gegessen und gestorben werden müsse immer, und zum Friseur ginge man auch. Ob er wisse, dass vor ein paar Tagen die Berliner Friseurinnung Alarm geschlagen habe, die Krise sei da, die Hauptstädter führten neuerdings lieber lange Matten oder Mützen spazieren als dass sie sich einen professionellen Haarschnitt leisteten? Das hält der Unternehmer für einen Scherz. Überhaupt ist er kein Freund von schlechten Nachrichten: „Ich mal’ Ihnen hier nicht den Teufel an die Wand, det mach’ ich nicht.“

Von "Verpimpelung" und "Mimosen-Mätzchen"

Noch jedenfalls merken sie bei Rogacki nichts von „Krise“ und Rezession und Depression. Im Gegenteil: Gerade wenn schlechte Zeiten nahen – kapitalistische Binsenweisheit –, will der Mensch sich etwas leisten, etwas gönnen. Er tanzt nun einmal gerne auf dem Vulkan. Das war in den Zwanzigerjahren so, während der großen Inflation, und das dürfte vorerst so bleiben – glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. . . Überhaupt meldet der Einzelhandel in diesem Jahr glänzende Weihnachtsgeschäfte: Schmuck, Parfüm, Accessoires, Antiquitäten, alles, was das Herz wärmt, die ratlose Seele streichelt, läuft gut. Und dass ein bei Rogacki von Angesicht zu Angesicht tot geschlagener Karpfen für mehr emotionale Bindung und Genussbefriedigung sorgt als ein Beutel armer, anonymer Tiefkühlgarnelen, leuchtet ebenfalls ein.

Vor den Festtagen also und zu Silvester, da ist sich der Chef sicher, wird es 2008 sein wie immer: Lange Schlangen vor sämtlichen Ständen bis weit auf die Wilmersdorfer Straße hinaus, ein Ritual, das die Kundschaft mit diebischer Demut auf sich nimmt. Ist doch interessant, zu beobachten, was die Nachbarin so kauft und wie viel und ob Klaus J. Behrendt alias „Tatort“-Kommissar Ballauf, der im Fernsehen auf Currywurst abonniert ist, nun den schwedischen Bio-Lachs wählt oder doch lieber den etwas magereren norwegischen. Dietmar Rogacki, seit 25 Jahren im Geschäft, geht – siehe oben – bestimmt regelmäßig zum Friseur. Gepflegter Schnauz, akkurat gestiftelter Mecki, beides eisgrau. Dazwischen zwei blaue, wache, freche Augen. Nicht gerade der Papa- Typ wie sein Großvater, der voluminöse Paul Rogacki, ein Schnapshändler aus dem Wedding, der 1928 auf Räucherwaren umstellte und vier Jahre lang mit seiner Schwester und einem Handkarren voller Aale eisern jeden Morgen zum Markt auf dem Alexanderplatz zog. Dann wurden ihm seine Öfen zu klein und die Sache zu eng, er bekam die Remise auf dem Hof des Grundstücks an der Wilmersdorfer Straße angeboten, und da residiert die Firma bis heute – nach drei Umbauten, einem Brand und der Zerstörung 1945.

Mensch, ruft Rogacki und schlägt das schlaksige linke Bein über das schlaksige rechte, „früher standen die Leute hier im Winter im Freien und verkauften, mit zwei warmen Unterhosen übereinander und drei Pullovern und waren nie krank. Heute muss nur die Klimaanlage um zwei Punkte fallen, schon frieren sie alle.“ Die „Verpimpelung“ des modernen Menschen, die „Mimosen-Mätzchen“ mancher Mitarbeiter, das sind so Rogackis Lieblingsthemen. Und die, jawoll, haben etwas mit Krise zu tun. Ganz handfest.

Er ist kein Chef zum Liebhaben

Ein Chef zum Liebhaben ist der 52-Jährige auf den ersten Blick nicht, eher eine Kämpfernatur, einer mit harter Schale. Wenn Witta und ihre Kolleginnen drüben an der „Schlemmer-Ecke“ die Petersilie mal wieder mit bloßen Fingern anfassen oder den Wein über den Glasrand hinaus eingießen, so dass die ganze Theke schwimmt, oder wenn sie selber mal einen über den Durst trinken, weil es eine verdammt harte Arbeit ist, immer so nah am Kunden und so nah an den Fischen und auch noch selber braten und brutzeln und immer sauber und immer freundlich von acht bis 18 Uhr, dann gibt’s eben einen auf den Deckel. Die „Schatzis“ und Stammgäste mögen gewisse kleine Exzesse lustig finden, sagt Rogacki und schlägt das rechte Bein übers linke, „neue Kunden aber denken sich, wat is’n det für’n komischer Laden hier.“

Dass dieser Laden nicht zuletzt von der Schrulligkeit seiner 120 Angestellten lebt, vom Lehrling im ersten Lehrjahr bis zum Kraftfahrer, der seit 36 Jahren dabei ist, das weiß Dietmar Rogacki natürlich auch. Falsche Freundlichkeit praktiziert hier keiner, jene amerikanische Plastik- Service-Mentalität, die „thank you for your cooperation“ sagt, während sie einem etwas aufzwingt oder reinwürgt, die sucht man zwischen Frischfisch und 80 (!) verschiedenen selbst gemachten Salaten vergebens. Wittas Sprüche bleiben Wittas Sprüche, der baumlange Kerl, der irgendwann mit Bodybuilding angefangen hat, ist jetzt drüben bei der Wurst, und der nette Kleine mit dem markanten Profil und der Pomade im schwarzen Haar wäre, würde er nicht so berlinern, eine Idealbesetzung für den Piccolo im „Weißen Rössl“. Der Rogacki-Kunde leidet regelrecht unter Entzugserscheinungen, unter Heimwehattacken und Operettensehnsüchten, wenn er dieses „sein“ Personal länger nicht zu Gesicht bekommt.

Das Personal ist der einzige Posten, an dem Dietmar Rogacki sparen könnte, sollte sich das Jahr 2009 wirtschaftlich tatsächlich so verheerend gestalten, wie die Politik es der Nation gerade beizubringen versucht. Aber beides sieht er eigentlich nicht. Weniger Personal bedeutet längere Wartezeiten für die Kunden, und wer nicht warten kann oder will, der wandert ab ins KaDeWe oder ins Lafayette oder gleich zum Großhandel. Da mag die Gefühlsebene nicht stimmen, da fehlt der Familienanschluss, auch ist das Preis-Leistungs-Verhältnis ein anderes, aber das wären wohl die Alternativen.

An der Energie jedenfalls (für Beleuchtung, Klimaanlage, Kühltheken) und am Wasser kann Rogacki nicht sparen, da hat er längst auf Niedrigverbrauch umgestellt, nur dass die Explosion der Kosten ihm gleich alles wieder wegfrisst. Und an der Qualität, an der Ware selbst will er nicht sparen, „das wäre dumm“. Vor ein paar Jahren haben sie versucht, den Kartoffelsalat aus fertig geschälten Kartoffeln herzustellen. Das Ergebnis schmeckte „seifig“, seither sind in der Küche wieder vier Frauen den ganzen Tag nur mit Kartoffelschälen beschäftigt.

Was also tun, wenn’s dicke kommt?

Der gebürtige Berliner, der eigentlich Fotograf werden wollte und schon als Kind lieber mit Sardinenbüchsen als mit Bauklötzchen spielte, wartet ab. Wie der Rest des Landes und die Politik auch. Für schlechte Vorhersagen ist der Mensch nicht geschaffen, das musste schon Kassandra in der griechischen Mythologie erfahren, und an den Tsunami hat man 2004 auch erst geglaubt, als einem das Wasser bis zum Halse stand. Außerdem plagen Dietmar Rogacki aktuell ganz andere Sorgen. Es ist draußen zu warm, so warm wie noch nie vor Weihnachten. Tagsüber acht oder neun Grad plus wie für Anfang der Woche prognostiziert, das bringt die gesamte Logistik ins Wanken. Da die für die Feiertage anzuliefernde Ware das Fassungsvermögen der Kühlhäuser um ein Mehrfaches übersteigt, geht man traditionell dazu über, die Gänse und Enten und Hasen und Hirsche und Hechte und Hummer im Hof zu lagern, sorgsam verpackt und in kleinen Partyzelten vor Wind und Wetter geschützt. Bei solch hohen Temperaturen aber ist das ein echtes Problem.

Eine Lösung scheint nicht in Sicht: Kein anzumietender Kühlwagen von ausreichender Größe passt durch die Hofeinfahrt, und die kostbare Fracht einfach auf der Straße zu parken, dieses Risiko könne man nicht eingehen. Also doch: Warten aufs Christkind, hoffen auf Jörg Kachelmann? Dietmar Rogacki schlägt ein Bein übers andere. Jetzt soll auch noch das Wetter etwas mit Wirtschaft zu tun haben?

Krisen hat es in der Geschichte der Charlottenburger „Stadtküche“ immer wieder gegeben. 1945, wie gesagt, liegt das ganze Gebäude Wilmersdorfer Straße 145-146 in Schutt und Asche, nur die beiden Altonaer Öfen aus dem Jahr 1932 widerstehen dem Bombenhagel, zwei pechschwarze Trutzburgen. In ihnen wird bis heute geräuchert, mit Feuer, Wasser und Buchenholz, und um mit den Emissionsschutzgesetzen nicht in Konflikt zu geraten, und weil die Mengen so gering sind, gibt es eine Rogacki-Sondergenehmigung. Die Firma Wiese aus Kiel, die 100 Jahre lang in ebensolchen Öfen Kieler Sprotten räucherte, ist an der staatlichen Auflage, Schadstoff bindende Filter einzubauen, unlängst pleite gegangen. Und der Rest der Branche arbeitet natürlich elektronisch. Da muss man dann nur noch den Knopf „Forelle“ oder „Heilbutt“ drücken.

Was während des Dritten Reichs war, will er nicht wissen

Unter Planen wie einst im Wedding geht der Fischverkauf nach Kriegsende rasch weiter. Bilder aus dieser Zeit zeigen lachende Verkäuferinnen über üppigen Auslagen, die Arme in die Hüften gestützt. Man ist mit dem Leben davongekommen. Zum 75. Firmenjubiläum 2003 organisierte Dietmar Rogacki im Laden eine Ausstellung mit historischen Fotografien, darunter auch eins von der Fassade in den Dreißigerjahren. Da wehen aus dem zweiten und dritten Stock kleine Hakenkreuzfahnen. Empörte Kunden bestürmten ihn, das Bild wieder abzuhängen - „oder sind Sie vielleicht ein Nazi?“ Als würden sich Menschenverachtung, rassistisches Denken und Mitläufertum bis heute in Rollmöpsen und Matjesfilets konservieren, ja als liefe man Gefahr, sich hier ideologisch zu infizieren.

Was seine Großeltern, die Firmengründer, während des Dritten Reichs denn gemacht hätten, wollen wir wissen. „Nix, weiß ich nicht, das waren Kaufleute.“ Mit einer etwas weniger nassforschen Auskunft täte man sich gewiss leichter. Dietmar Rogacki aber schlägt ein Bein übers andere und ist längst bei der großen Fisch-Krise von 1987. Da strahlte das TV-Magazin Monitor einen Beitrag über sogenannte Nematoden (Fischwürmer) in Seefischen aus. Der allgemeine Ekel grassierte, andere Medien zogen kräftig nach, und der Frischfischkonsum brach um 80 Prozent ein. Sie hätten damals aufgeklärt und Schilder aufgestellt, dass die neuen Hygiene-Verordnungen an der Wilmersdorfer Straße Standard seien – es habe alles nichts genützt. Essen ist nun einmal eine Frage des Vertrauens. Ein volles Jahr hat es gedauert, bis dieses wiederhergestellt war, einigermaßen.

Von BSE oder der Vogelgrippe weiß Dietmar Rogacki ganz ähnliche Geschichten zu erzählen. Fast ist es, als hüpften die Auswüchse und Folgen unserer zerstörten, pervertierten Natur bei ihm in schöner Regelmäßigkeit von Theke zu Theke: vom Fisch zum Fleisch zum Geflügel und wieder zurück. Und wenn mal gar nichts los ist, dann demonstrieren vor den Schaufenstern garantiert ein paar Tierschützer in Hummer-Kostümen gegen das Halten lebender Tiere im Geschäft.

So einfacht ist das mit der Krise

Sortiment und Geschmack werden demnach weniger vom Zeitgeist diktiert, vom allgemeinen Schlankheits-, Gesundheits- oder Wellnesswahn, als vielmehr und in erster Linie vom Zustand und guten Ruf des Rohstoffs. Lässt sich das Angebot so überhaupt gestalten, steuern, verändern? Der Rogacki-Chef wiegt den Kopf, „bei allem Neuen wird grundsätzlich die Nase gerümpft, egal, ob wir einen Curry-Reis-Salat ausprobieren oder über moderne Theken nachdenken.“

In Sachen Fisch allerdings wird der Verbraucher umdenken müssen. Laut einer aktuellen Greenpeace-Studie sind mehr als drei Viertel der weltweiten Fischbestände bis an ihre Grenzen ausgebeutet und überfischt. Ganze zwei von zehn deutschen Supermärkten haben darauf reagiert und ihr Sortiment akzeptabel umgestellt. Nur sechs Arten (Karpfen, Lachs aus dem Pazifik, Pangasius, Regenbogenforelle, Sardine aus dem Nordostatlantik und Zander) kann man uneingeschränkt und guten Gewissens überhaupt noch verzehren. Bei Rogacki waren es früher 25 Arten, heute sind es um die 80 – das Flugzeug und die Globalisierung machen es möglich, und schön sieht er ja aus, der Papageienfisch aus den Tropen, mit seinen blau- orange gezackten Flammen.

Ob Überfischung ein Thema sei? „Das ist dem Kunden egal.“ Ob man ihn nicht erziehen müsse, seinen Kunden? „Nehmen Sie einem Autofahrer mal das Auto weg.“ Und wenn es eines Tages keinen Hering und keinen Rotbarsch mehr gäbe? „Dann gibt’s eben keinen mehr. Gewohnheiten ändern sich. Bückling isst heutzutage ja auch niemand mehr.“ Besonders nachhaltig, hm, klingt das nicht. Drüben am Schlemmer-Eck beißt die blonde Witta gerade herzhaft in eine dicke Wurst und legt das angebissene Stück neben der offenen Kasse ab. Sie sieht müde aus, es war ein langer, lauter Tag. Ohne Fische wird man eines Tages keine Delikatess- und Fischgeschäfte mehr brauchen. Insofern hängt eben doch alles mit allem zusammen, das Wetter, die Wirtschaft, das Klima, der Markt und die Ethik. So einfach ist das mit Rogacki und der Krise.

Christine Lemke-Matwey

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