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In Chemnitz zeigen sich eine Genration später die Nachbeben der Wiedervereinigung.

© John MACDOUGALL / AFP

Gesellschaftliche Umbrüche: Die Lehre aus Chemnitz

Folgen gesellschaftlicher Umstürze werden oft erst eine Generation später sichtbar, das gilt auch für Wiedervereinigung und Digitalisierung. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Ursula Weidenfeld

Bei allem Streit um den Charakter der rassistischen Vorfälle in Chemnitz sind sich die Beobachter in einem Punkt einig: Die Wurzeln für die extreme Härte auf den Straßen der sächsischen Stadt liegen nicht nur in der Migrationskrise der Jahre 2015 und 2016. Sie liegen auch in Fehlern, die lange zuvor gemacht wurden, bei der Wiedervereinigung zum Beispiel. Die Enttäuschungen aus dieser Zeit hätten viele Menschen mit Hass erfüllt.

Wenn das stimmt, muss jetzt mehr geklärt werden als die Frage, was wirklich passiert ist. Auch die Lebensgeschichten der Beteiligten und ihrer Familien müssen genau angeschaut werden, und es muss daraus gelernt werden: damit es beim nächsten großen gesellschaftlichen Umsturz nach Möglichkeit besser geht.

Wenn es richtig ist, dass die Nachbeben großer gesellschaftlicher Umbrüche etwa 20 bis 30 Jahre später spürbar werden, verhandeln wir derzeit – ohne dass es uns bewusst ist – auch die Frage, wie zufrieden und selbstbewusst die heutigen Kinder und jungen Erwachsenen jenseits des Jahres 2040 leben können.

Auf die Bedürfnisse der Verlierer zu schauen ist schwierig, aber umso wichtiger

Bis dahin wird die Digitalisierung Gewinner und Verlierer produzieren, Lebensläufe entwerten, Menschen verarmen lassen und anderen unverdient Reichtum schenken. Auch wenn unter dem Strich kaum Arbeitsplätze verloren gehen sollen, wie Ökonomen sagen, werden sich fast alle Berufe gewaltig verändern. Berufe, die heute noch ein hohes Sozialprestige haben, werden möglicherweise völlig überflüssig. Andere Beschäftigungen, die man derzeit belächelt, werden vielleicht sehr wichtig. Viele werden mithalten können. Doch viele wird dieser Wandel überfordern.

Auf die Bedürfnisse der Verlierer genauer zu schauen, ist schwierig, wenn man mitten in einem solchen Prozess steckt. Doch es ist vielleicht die wichtigste Lehre, die aus den Ereignissen der vergangenen Wochen gezogen werden muss. Verlierer von Revolutionen in einem demokratischen Gemeinwesen brauchen nicht nur materielle Sicherheit. Gerade in der Phase des Umbruchs erwarten sie Fairness und Respekt. Sie möchten, dass ihre Stimme gehört wird - nicht erst, wenn sie bereits hasserfüllt ist.

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