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Dienstantrittsbesuch in Kriegszeiten. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht Mitte mit dem Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais (r.) und dem Kommandeur der Panzerlehrbrigade 9 Niedersachsen , Brigadegeneral Christian Freuding (l.) auf dem Truppenübungsplatz in Munster.

© imago images/Björn Trotzki

Global Challenges: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod

Der Ukrainekrieg zeigt: Eine starke Europäische Verteidigungsunion ist das Gebot der Stunde. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von David McAllister

Dieser Beitrag ist Teil der Serie "Global Challenges" - eine Marke der DvH Medien. Das Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute schreibt David McAllister, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. Regelmäßige AutorInnen sind: Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Prof. Veronika Grimm, Dr. Werner Hoyer, Günther H. Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine Zeitenwende für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa. Unsere Rolle in der Welt wird sich ändern müssen. Zu Recht sprach der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vor dem Europäischen Parlament von der „Geburtsstunde für ein geopolitisches Europa“.

Als Europäer müssen wir wieder lernen, für unsere Werte zu streiten, gegen militärische Bedrohungen gewappnet zu sein und unsere Interessen in der Welt durchzusetzen.

Am Ende dieser Woche wird der Europäische Rat den neuen „Strategischen Kompass“ bestätigen. Diese während der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni 2020 ins Leben gerufene Initiative soll der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU in den kommenden Jahren eine klare Richtung geben. Zum ersten Mal gibt es eine umfassende Bestandsaufnahme von Risiken und Bedrohungen, die alle 27 Mitgliedstaaten betreffen.

Anders als in den jeweiligen EU-Ländern muss die außen- und sicherheitspolitische Kultur der Europäischen Union auf dem Konsens aller 27 Mitglieder basieren. Ziel ist es, eine gemeinsame strategische Vision für die EU als internationalen Sicherheitsakteur zu entwickeln.

Bereitschaft zu mehr Verantwortung

In Versailles haben die Staats- und Regierungschefs unlängst die Bereitschaft bekundet, dass die Europäische Union mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernimmt und die Verteidigungsausgaben deutlich erhöht werden. Endlich!

Der Strategische Kompass dient dazu, diese Bekenntnisse in die Tat umzusetzen. Wir brauchen einen konkreten Fahrplan mit klaren Prioritäten, wie bis 2030 bestehende Instrumente weiterentwickelt werden können und welche zusätzlichen Fähigkeiten aufgebaut werden müssen. Die Fortschritte in der Umsetzung müssen konkret messbar sein.

Unsere Aktivitäten sollten dabei eng mit dem strategischen Konzept der Nato, das im Juni in Madrid beschlossen werden soll, abgestimmt werden. Das böte einen erheblichen Mehrwert für die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem transatlantischen Verteidigungsbündnis.

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nachhaltig zu stärken, heißt aus meiner Sicht, außenpolitisch handlungsfähiger zu werden. Die EU muss außenpolitische Entscheidungen flexibler treffen. Das Einstimmigkeitsprinzip hemmt unsere Handlungsfähigkeit erheblich.

Mehrheitsentscheidungen, schnell!

Daher sollten schnellstmöglich Mehrheitsentscheidungen in Angelegenheiten der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ermöglicht werden. Die EU-Verträge bieten hierfür den nötigen Spielraum. Bestimmte außenpolitische Entscheidungen ohne militärischen oder verteidigungspolitischen Bezug könnten bereits heute mit qualifizierten Mehrheiten getroffen werden, beispielsweise wenn es um Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen geht.

Außerdem kommt es darauf an, bestehende Instrumente effektiver zu nutzen. Derzeit besteht die europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion aus drei Kerninitiativen: der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, dem Europäischen Verteidigungsfonds und der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung. Die Beistandsklausel nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags über die Europäische Union ist Ausdruck der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Ungenaue Vorgaben

Im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines EU-Staates sind die übrigen EU-Mitglieder aufgefordert, alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung zu leisten. Allerdings wurden die praktischen Implikationen dieser Beistandsklausel nie eindeutig definiert. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt nun überdeutlich, dass wir klare Vorgaben und Leitlinien für die Beistandsklausel brauchen.

In der derzeitigen Krise hat sich erwiesen, dass die European Peace Facility unsere Partner strategisch unterstützen kann. Ohne dieses neu geschaffene Instrument wäre es nicht möglich gewesen, die Ukraine mit militärischem Material inklusive Waffen zur Selbstverteidigung in Höhe von bislang 500 Millionen Euro zu unterstützen. Weitere 500 Millionen Euro sind politisch vereinbart.

Im Rahmen der zivilen und militärischen Missionen und Operationen der EU wird die European Peace Facility künftig ein entscheidendes Instrument sein. Obwohl die EU in den vergangenen Jahren solide sicherheits- und verteidigungspolitische Instrumente aufgebaut hat, fehlte lange der echte politische Wille, die vorhandenen Mittel auch effektiv zu nutzen. Oft waren einzelnen Mitgliedstaaten ihre jeweiligen Partikularinteressen wichtiger als eine gesamteuropäische Antwort. Das soll sich mit dem Strategischen Kompass nun endlich ändern.

Wir müssen unsere europäische Zusammenarbeit stärken. Dänemarks Entscheidung, Anfang Juni ein Referendum über den Beitritt zur Gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik abzuhalten, das deutsche Bekenntnis zu zusätzlichen Verteidigungsausgaben sowie die Debatten in Finnland und Schweden über einen Nato-Beitritt belegen: Überall in Europa gewinnt die Sicherheits- und Verteidigungspolitik an Bedeutung.

Stärkere Integration ist nötig

Wichtig ist, dass die EU-Länder insgesamt mehr und effizienter in militärische Fähigkeiten und innovative Technologien investieren. Strategische Kapazitätslücken sind zu identifizieren und konsequent zu schließen. Dazu gehört, sicherheitsbezogenen Aktivitäten, einschließlich der Cyberabwehr und im Kampf gegen hybride Bedrohungen, innerhalb der EU stärker zu integrieren.

Es geht darum, gemeinschaftliche Rüstungsprojekte der neuen Generation zu entwickeln und militärische Ausrüstung gemeinsam zu beschaffen. Hierzu zählen der europäische Kampfpanzer, ein europäisches Kampflugzeugsystem und die Eurodrohne, um nur drei Beispiele zu nennen. Technologische und industrielle Abhängigkeit zu verringern, ohne in nationale Eitelkeiten zu verfallen, ist das Gebot der Stunde.

Diese Entwicklungen sollten durch den Aufbau neuer Fähigkeiten flankiert werden. Dazu gehört eine schnell verfügbare EU-Eingreiftruppe. Die im Strategischen Kompass vorgesehene „EU Rapid Deployment Capacity“ mit 5000 Soldaten könnte im Ausland bei Rettungs- und Evakuierungsmissionen eingesetzt werden - eine Lehre aus dem überstürzten Rückzug aus Afghanistan.

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Bei all unseren Aktivitäten in der EU geht es nicht darum, Nato-Fähigkeiten zu duplizieren. Es geht vielmehr darum, sie sinnvoll zu ergänzen und so den europäischen Pfeiler innerhalb der Nato zu stärken. Das transatlantische Bündnis ist und bleibt für seine Mitglieder das Fundament der kollektiven Verteidigung.

Mit einer leistungsfähigeren Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf Grundlage unserer außenpolitischen Stärken als Soft Power kann die Europäische Union ihren eigenen Anspruch näher kommen, global als strategischer Partner und Friedensakteur aufzutreten. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist eine starke Europäische Verteidigungsunion.

David McAllister

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