zum Hauptinhalt
Experten sorgen sich in der Coronavirus-Krise um die Kleinsten.

© Nicolas Armer/dpa

„Knochenbrüche oder Schütteltraumata“: Mediziner berichten von massiver Gewalt gegen Kinder

Ärzte sind alarmiert: Sie sehen Verletzungen wie sonst nur nach Autounfällen. Die Zahl der Anrufe bei der Kinderschutzhotline steigt stark.

Bei der vom Bundesfamilienministerium initiierten Kinderschutzhotline nimmt die Zahl der Anrufe in der Coronavirus-Krise stark zu. Allein in den ersten beiden Mai-Wochen nutzte medizinisches Personal in mehr als 50 Verdachtsfällen das Hilfsangebot - fast so häufig wie im gesamten April. Das sagte Teamleiter und Kinderarzt Oliver Berthold im Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ).

„Es geht um Knochenbrüche oder Schütteltraumata“

„Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Da geht es um Knochenbrüche oder Schütteltraumata.“ Betroffen seien besonders Kleinstkinder, die noch nicht selbst laufen können. „Da liegt der Verdacht nahe, dass den Kindern massive Gewalt zugefügt wurde.“

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]

Berthold berät gemeinsam mit acht Mediziner-Kollegen Anrufer der Kinderschutzhotline. Das Angebot richtet sich speziell an Beschäftigte in medizinischen Berufen wie Ärzte oder Therapeuten und soll in Verdachtsfällen beraten, wie weiter vorgegangen werden kann. „Wir vermuten, dass im Zuge der ersten Corona-Lockerungen jetzt sichtbar wird, dass es in manchen Familien zu Gewaltausbrüchen in der Krise gekommen ist“, sagte Berthold zu den vermehrten Anrufen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Überraschend sei die Entwicklung für ihn nicht gewesen. Studien hätten belegt, dass in gesellschaftlichen Krisensituationen die Gewalt gegen die Schwächsten in der Gesellschaft zunimmt. „Das sind in aller Regel die Kinder“, sagte der Mediziner. Angesichts der Ausgangsbeschränkungen der vergangenen Wochen sowie geschlossener Schulen und Kitas seien Extremsituation in Familien abzusehen gewesen. „Diese klare Nebenwirkung der Lockdown-Maßnahmen war zu erwarten, auch wenn die Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht sinnvoll gewesen sein mögen“, so Berthold.

Kinderärztepräsident kritisiert rein virologischen Blick

Kinderärztepräsident Thomas Fischbach hatte gegenüber der NOZ betont: „Der rein virologische Blick auf die Lage ist nicht ausreichend.“ Gerade für Kinder sei der soziale Kontext von existenzieller Bedeutung. „Das dauerhafte Einsperren der Kinder führt zu innerfamiliären Konflikten“, so Fischbach.

Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte warnte angesichts weniger aktenkundig gewordener Fälle von Kindeswohlgefährdung vor falschen Rückschlüssen: „Die Fälle werden meist von Kindergärten und Schulen gemeldet, aber die sind geschlossen.“

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter Fragen des Tages. Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Dieser Ansicht ist man auch beim Deutschen Kinderschutzbund. „Wir haben immer befürchtet, dass der zwischenzeitliche Einbruch der Fremdmeldungen im März und im April vor allem auf die geschlossenen Kitas und Schulen und die weniger stattfindenden kinderärztlichen Kontrolluntersuchungen zurückzuführen ist“, sagte Sprecherin Juliane Wlodarczak.

Kinderschutzbund fordert Datenabfrage in den Bundesländern

Die Kolleginnen und Kollegen in den Jugendämtern und Gliederungen des Kinderschutzbundes sorgten sich tatsächlich, dass der Tag kommen werde, an dem die Zahlen explodieren - wenn Schulen wieder öffnen und U-Untersuchungen bei Kinderärzten nachgeholt werden.

Erste Hinweise aus einzelnen Jugendämtern haben wir bereits. Dort steigen die Zahlen seit Anfang Mai wieder rasant“, sagte Wlodarczak. Noch lägen aber keine bundesweit belastbaren Daten vor. „Es wäre unserer Ansicht nach an der Zeit, dass das Bundesfamilienministerium per Schnellabfrage in den Ländern ein klares Lagebild erstellen würde.“

World-Vision-Bericht über weltweite Zunahme der Gewalt

Auch weltweit hat die Gewalt gegen Kinder einem Bericht der Hilfsorganisation World Vision zufolge während der Coronavirus-Pandemie stark zugenommen. In Bangladesch beispielsweise hätten Eltern und Erziehungsberechtigte Kinder 42 Prozent häufiger geschlagen und es habe 40 Prozent mehr Anrufe beim Kinder-Not-Telefon gegeben, heißt es in einem am Freitag in Berlin veröffentlichten Bericht von World Vision.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Die Organisation rechnet damit, dass die Gewalt gegen Kinder infolge der Coronavirus-Krise weltweit um mindestens 20 Prozent ansteigt. Ein Grund für diese Situation ist nach Auffassung der Advocacy-Direktorin von World Vision International, Dana Buzducea, die Schließung von Schulen und anderen sozialen Einrichtungen. Kindern fehle der Schutz und die Unterstützung, die sie dort sonst erhielten, so Buzducea. „Das Zuhause ist nicht für alle Kinder ein sicherer Ort und durch Kontaktsperren sind viele Familienmitglieder mit gewalttätigen Menschen isoliert.“

Der Hilfsorganisation zufolge sind Kinder aus Familie, die wegen der Corona-Pandemie in Existenznot geraten, besonders gefährdet. Jungen müssten in einer solchen Situation oft arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen. Mädchen drohe sexuelle Ausbeutung oder Kinderheirat. In den nächsten zwei Jahren könnten rund vier Millionen Mädchen mehr als gewöhnlich in dem Zeitraum verheiratet werden, prognostizierte World Vision.Die Organisation forderte unter anderem, Kinderschutzdienste zu fördern, Beratungs- und Hilfsangebote kinderfreundlich zu gestalten und soziale Hilfe für von der Krise bedrohte Familien. (KNA, epd)

Zur Startseite