zum Hauptinhalt
Exklusiv

Kolonialismus: Wie viel Raubkunst besitzen die Deutschen?

Menschliche Gebeine und Kunstschätze: Wie viele zweifelhafte Objekte in deutschen Sammlungen liegen, weiß niemand – auch die Bundesregierung nicht.

Die Deutschen haben unzählige Leichen im Keller – buchstäblich. In vielen Museen und Privatsammlungen lagern in Pappschachteln verpackte Schädel und Knochen. Die Gebeine stammen von Menschen aus Afrika und Asien, die unter europäischer Kolonialherrschaft getötet wurden. Ihre Skelette wurden damals zur „Rasseforschung“ nach Deutschland gebracht. Seit Jahren fordern Länder wie Namibia oder Tansania die Rückgabe. Die Bundesregierung hat versprochen, sich darum zu kümmern. Die „Aufarbeitung des Kolonialismus“ steht im Koalitionsvertrag.

"Fehlender Gestaltungswille"

Doch die Sache kommt nicht voran. Die Bundesregierung weiß nicht, wie viele menschliche Überreste aus der Kolonialzeit Deutschland heute besitzt. Auch hat sie keinen Überblick, wie viel Beutekunst aus den ehemaligen Kolonien in bundeseigenen Sammlungen liegt.

Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt. Darin heißt es: „Quantifizierbare Daten zu menschlichen Überresten in musealen oder wissenschaftlichen Sammlungen und Einrichtungen in (Mit)Trägerschaft des Bundes liegen der Bundesregierung nicht vor.“ Selbst im Bestand des Berliner Humboldt Forums, das der Bund mit 483 Millionen Euro mitfinanziert, kennt sich die Regierung nicht aus. Wie viele Objekte zweifelhafter Herkunft es unter den 20.000 Exponaten aus aller Welt gebe, sei „derzeit nicht exakt quantifizierbar“.

Offiziell will die Bundesregierung daran etwas ändern – und die „Provenienzforschung“ ausbauen, also die Herkunft umstrittener Kulturgüter wissenschaftlich klären lassen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, an der der Bund beteiligt ist, soll dafür sechs neue Stellen bekommen. Viel zu wenig, findet die Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther: „Wenn der Bundesregierung tatsächlich an einer umfassenden Erforschung dieser Objekte und ihrer Herkunft gelegen ist, muss sie konzeptionell und finanziell deutlich nachliefern“, sagt Kappert-Gonther. Ihr Vorwurf an die Groko: „fehlender Gestaltungswille“.

Länder ein Stück weiter

Gesetzgeberisch tätig werden will die Bundesregierung nicht. „Maßnahmen zu einer verpflichtenden Kennzeichnung“ kolonialer Beutekunst soll es nicht geben. Eine Initiative zur schnellen Rückführung gestohlener Kunstwerke in die Herkunftsländer – wie Frankreich es vorhat – plant die Bundesregierung nicht. Die meisten Museen lägen ohnehin in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen, heißt es in der Antwort auf die Grünen-Anfrage.

Die sind teils einen Schritt weiter als die Groko. Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hat vor wenigen Wochen Vertreter der Herero und Nama aus Namibia um Vergebung für den deutschen Völkermord an ihren Vorfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebeten. Der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (SPD) hatte bereits im vergangenen Jahr „ausdrücklich um Vergebung“ für die Beteiligung seiner Stadt an den Kolonialverbrechen gebeten.

Verena Göppert, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetages, sagt, es seien in den vergangenen Jahren „gesonderte Stellen zur Provenienzforschung für städtische Sammlungen und Museen eingerichtet worden, Forschungsvorhaben initiiert und durchgeführt worden und Fördermittel für die Aufklärungsarbeit bereitgestellt worden.“ Der Geschichtsprofessor Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg fordert, dass unabhängige Experten – nicht die Museen selbst – die Frage der Raubkunst untersuchen. „Das können die Häuser doch nicht selbst auswerten“, sagt er. „Die Aufarbeitung muss von unabhängigen Experten, auch aus dem Globalen Süden, angeführt werden, die die Sache unter die Lupe nehmen und anschließend sagen, wie groß der Anteil an Raubkunst ist.“

Die Bundesregierung sieht auch den Bundestag in der Pflicht, wenn es um die von der Groko versprochenen Aufarbeitung des Kolonialismus geht. „Bezogen auf die Forderung nach einer zentralen Gedenk- und Dokumentationsstätte hat es sich bewährt, dass die Initiative für die Errichtung national bedeutsamer Denkmale vom Deutschen Bundestag ausgehen sollte“, heißt es in der Antwort auf die Grünen-Anfrage.

"Das Thema wird weggedrückt"

Der Kolonialismus-Forscher Zimmerer findet: „Die Bundesregierung versteckt sich hinter prozeduralen Fragen, das Thema wird weggedrückt.“ Christian Kopp vom Verein „Berlin Postkolonial“ kritisiert, dass die Bundesregierung „selbst über ihre eigenen Sammlungen keine genaueren Auskünfte geben“ könne. „Zugleich plant sie aber auch kaum etwas, um mehr Transparenz herzustellen. Die Bundesregierung setzt weiter auf Besitzstandswahrung.“

Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby ist unzufrieden mit dem Kurs der Regierung. „Wir brauchen eine echte Wiedergutmachungspolitik, die zu einer umfassenden Rückgabe von Kulturgütern und Gebeinen aus Afrika führt“, lautet seine Forderung. Bundesregierung und Parlament seien gleichermaßen in der in der Pflicht.

Die zuständigen Expertinnen der Union reagierten am Mittwoch nicht auf Tagesspiegel-Anfrage – aus Termingründen, wie es in der Pressestelle der Fraktion hieß. Dafür vertrat Martin Rabanus, der kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, gegenüber dem Tagesspiegel die Linie der Regierung: „Auch wenn wir offen sein müssen für die Rückgabe von Kulturgütern, ist das allein nicht immer die einzige Antwort.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false