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Ein Theaterstück in Krakau erinnert an die antisemitische Kampagne im März 1968.

© Bartosz Siedlik/AFP

50 Jahre 1968: Das letzte Aufbäumen der jüdischen Hoffnung

David Kowalski untersucht die polnischen März-Unruhen von 1968 aus jüdischer Perspektive. Und identifiziert eine traurige Permanenz des Antisemitismus. Eine Buchbesprechung.

Wenn in diesen Tagen von der 68er-Bewegung gesprochen wird, verdeckt dies zuweilen, dass die Protestwelle, die vor fünfzig Jahren um den Globus schwappte, in den einzelnen Ländern höchst unterschiedliche Ereignisse unter sich vereinte. Während die Studenten in Deutschland und Frankreich für sozialistische Ideale auf die Straße gingen, protestierten ihre Kommilitonen in Warschau in den sogenannten Märzunruhen gegen die sozialistische Staats- und Parteiführung. Dabei drängten die Demonstranten nicht auf die Abschaffung des politischen Systems, sondern auf die Verwirklichung des kommunistischen Versprechens.

Ein Großteil der jungen Oppositionellen kam aus jüdischen Familien. Sie organisierten sich im Diskussionskreis des „Klubs der Widerspruchsuchenden“, darunter Adam Michnik, heutiger Chefredakteur der größten Tageszeitung des Landes, „Gazeta Wyborcza“, und der Historiker Jan T. Gross.

Eine dezidiert jüdische Perspektive

Für ein Land, in dem nach dem Holocaust kaum noch Juden lebten, ist die außergewöhnliche Zusammensetzung der Oppositionsbewegung erklärungsbedürftig. Diese Konstellation hat David Kowalski als Ausgangspunkt seines Buches „Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968“ gewählt. Mithilfe von umfangreichem Archivmaterial und vielen Zeitzeugengesprächen bereichert der Historiker die polnische Geschichte um eine weitere, dezidiert jüdische Perspektive.

Ausgehend von den Tagen im März deutet Kowalski die Geschehnisse als Verlängerung eines Konflikts zweier konkurrierender polnischer Selbstverständnisse, die bis zum heutigen Tag die Gesellschaft spalten: zum einen das exkludierende, auf Homogenität abzielende katholisch geprägte Polentum der Parteiführung, zum anderen die oppositionellen Studenten, die für ein pluralistisches und offenes Polen auf die Straße gingen und sich gen Westen orientierten. Die überproportional starke Vertretung jüdischer Akteure kann Kowalski zufolge als „letztes Aufbäumen der jüdischen Hoffnung in den Kommunismus“ und der „Assimilation an das Polnische“ gelesen werden.

Traurige Aktualität

Die damalige Parteiführung reagierte auf die Proteste mit einer groß angelegten, antisemitischen Propagandakampagne. Die Studenten wurden als „zionistische Agenten“ hingestellt, die die polnische Gesellschaft unterwandern wollten. Menschen jüdischer Herkunft wurden der Illoyalität Polen gegenüber bezichtigt und aus Partei und öffentlichen Positionen entfernt. Ihrer Existenzgrundlage somit beraubt, entschied sich daraufhin etwa die Hälfte der damals noch 30 000 in Polen lebenden Juden, ihr Heimatland zu verlassen.

In Zeiten wiederkehrender antisemitischer Tiraden könnte „Polens letzte Juden“ zu einem vertiefenden Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen im Nachbarland beitragen. Denn die nationalistischen Kräfte, die heute wirken, schienen bereits vor 50 Jahren durch. Die Ereignisse von 1968, so weist Kowalski nach, besitzen – auf eine ganz andere Weise als in Deutschland – eine traurige Aktualität.

David Kowalski: Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018 (Schriften des Simon- Dubnow-Instituts, Bd. 30). 256 S., 45 €.

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