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Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU)

© dpa/Bernd von Jutrczenka

Schäuble über Kanzlerin Merkel: „Sie hat keine Bedenkzeit und keine Wahl“

Der Streit in der Union bewegt auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Ein Interview über die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin – und die Kunst gesichtswahrender Kompromisse.

Von
  • Hans Monath
  • Robert Birnbaum

Herr Schäuble, ist das Europa am Ende, für das Sie Ihr Leben lang gearbeitet haben – das Europa des Ausgleichs, der Kompromisse, der Gemeinsamkeit?

Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Dieses Projekt Europa aus der Vielfalt der historischen Last, aber auch der historischen Errungenschaften als Einheit zu formen ist eine unglaubliche Aufgabe. Sie ist bislang besser gelungen, als man das über lange Zeit für möglich gehalten hätte. Aber dieses Projekt tendiert wie andere freiheitliche, regulierte Systeme dazu, bürokratisch perfekter zu werden und am Schluss immobil. Ich habe immer gesagt: Europa bewegt sich nur in Krisen vorwärts.

Aber Sie selbst haben doch in der letzten Fraktionssitzung gewarnt, manche wüssten gar nicht, was im aktuellen Streit zwischen CDU und CSU auf dem Spiel stehe.

Natürlich ist das Projekt Europa gefährdet. Ich habe in der Sitzung gesprochen, weil ich das Gefühl hatte, ich könnte mir sonst später Vorwürfe machen. Ich bin der Älteste in meiner Fraktion und kann genau sagen, warum die Situation heute nichts, gar nichts zu tun hat mit der Situation von 1976, als Franz-Josef Strauß die Fraktionsgemeinschaft in Kreuth aufkündigen wollte.

Was war denn Ihr zentrales Anliegen?

Ich habe etwa so argumentiert: Wir haben genug Probleme im eigenen Land. Wir wissen, dass Europa ohne ein funktionierendes Deutschland in einer schwierigen Lage ist. Wir haben also nicht nur eine Verantwortung für uns, sondern auch für andere. Uns wird es umgekehrt nur gutgehen, wenn Europa einigermaßen stabil bleibt und funktioniert. Vor diesem Hintergrund dürfen wir unsere eigenen Streitigkeiten nicht zu wichtig nehmen, die viele Ursachen haben, auch Verletzungen. Darum habe ich gesagt: Es steht mehr auf dem Spiel. In vielen westlichen Ländern ist das demokratische Modell unter Druck. Wir sind in einer kritischen Phase. Es war ja schon ungeheuer schwierig, die große Koalition zu bilden. In dieser Lage müssen wir verantwortlich handeln.

Andere sagen: Wenn andere in Europa nur noch auf ihren Nutzen blicken, müssen wir auch mit nationalen Maßnahmen dagegenhalten. Falsch?

Im Grunde ist es schwer zu bestreiten, dass europäische Integration viel mit offenen Grenzen zu tun hat. Wenn wir das Prinzip der offenen Grenzen in Europa aufgeben, haben wir ein fundamentales Problem. Zu offenen Grenzen innerhalb Europas gehört aber, dass wir gemeinsam seine Außengrenzen schützen. Nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Eigeninteresse müssen wir die Länder unterstützen, die europäische Außengrenzen haben. Das war nicht hinreichend klar bisher. Entscheidend ist, dass sich endlich die Dinge schneller bewegen. Ich würde wetten, dass wir viel schneller substanzielle Fortschritte sehen werden als das viele erwartet haben.

Dann hilft die CSU mit ihrem Aufstand der EU?

Ich habe vor gut zwei Jahren gesagt, dass es ist nicht wirklich relevant ist, ob für den Rückgang der Flüchtlingszahlen die Schließung der Balkanroute oder das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei entscheidend war. Wenn es innerhalb der EU bald ein gutes Ergebnis gibt, dann sollten wir uns drüber freuen. Wenn die CSU das ausgelöst hat, dann ist das die List der Geschichte. Jeder weiß doch: Druck hilft.

Aber herrscht nicht Überdruck? Der CSU passt auch die deutsch-französische Reformagenda für die Euro-Zone nicht.

Ich bin gerade in einem Kreis von Transatlantikern gefragt worden, was ich von dem in Meseberg beschlossenen Euro-Zonen-Budget halte. Ich habe gesagt: Über die ökonomische Sinnhaftigkeit kann man trefflich debattieren. Aber dass Macron das für seine innenpolitische Diskussion braucht, sollte man nicht bestreiten. Und dann ist es richtig, dass Frau Merkel zugestimmt hat. So ist Politik. Man muss aufpassen, dass der andere sein Gesicht wahren kann.

Hätten nicht zwei Parteivorsitzende einfach nur diese Regel beachten müssen, um sich ohne großen Zank zu einigen?

Wie andere Probleme hat auch dieses viele Dimensionen. Es ist nicht meine Aufgabe, die hier zu kommentieren. Aber die Entscheidung vom Herbst 2015, die Grenzen nicht zu schließen, war natürlich schon eine Grunderschütterung. Die wirkt vielfältig nach. Vor uns liegt die Aufgabe, mehr als eine Million Menschen zu integrieren. Ein Land von der Größe und Stabilität Deutschlands kann das bewältigen. Das geht aber nicht ohne Probleme ab. Deshalb muss man offen sagen: Da sind auch manche gekommen, von denen wir uns das nicht gewünscht haben. Die sind nun aber da. Die werden wir auch nicht alle zurückführen können. Ich habe 2015 die Flüchtlingskrise als Rendezvous mit der Globalisierung bezeichnet. Afrika und die arabische Welt sind unsere Nachbarn. Wir müssen uns um sie kümmern.

Das ist ja alles richtig, nur wollen das viele Menschen nicht wahrhaben und wählen stattdessen Protest.

Ich zitiere gerne aus Lessings „Nathan der Weise“: „Begreifst du, wie viel leichter andächtig schwärmen als gut handeln ist?“ In der Migrationspolitik kann man lernen wie unter einem Brennglas, was Politik heißt. Man könnte auch Helmut Schmidt zitieren, der nach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer gesagt hat: Wer politisch handelt, wird schuldig. Wenn wir das besser erklären und uns dazu auch bekennen, dann können wir den Konflikt zwischen der Menschlichkeit, die wir nicht aufgeben wollen und dürfen, und unseren Möglichkeiten auflösen – in einer Weise, die die Stabilität unserer wertebasierten, freiheitlichen Ordnung nicht gefährdet. Dann muss man aber auch das tun, was möglich ist, und nicht einen Streit zelebrieren, der nur eine Wirkung hat: Dass noch mehr Leute sagen, die kriegen das nicht hin.

Wer war’s, Seehofer oder Merkel?

Es ist völlig irrelevant, wer an diesem Streit schuld ist. Eines steht fest: Er ist ein Förderprogramm für Demagogen.

Und er zerreißt die Union?

Er zerrt an allen. Es ist überall der gleiche Konflikt, für den der damalige Bundespräsident Joachim Gauck die Formel geprägt hat: Unser Herz ist groß, aber unser Möglichkeiten sind begrenzt. Er zerreißt fast die Linke. Die SPD unterdrückt den Streit noch. Ist es bei den Grünen anders? Ist es bei der FDP anders? Es ist ein Problem unserer Gesellschaft, nicht nur der Union.

Aber nur die Union droht er wortwörtlich zu spalten. Wieso glauben Sie, das sei heute anders als bei Kreuth 1976?

Weil Helmut Kohl nicht Bundeskanzler war, sondern Oppositionsführer.

Was macht den Unterschied?

Damals hatte die Union in einem System mit drei Fraktionen im Bundestag die Wahl verloren. Sie hatte mit einem Kanzlerkandidaten, den Strauß nicht für den besten hielt, 48,6 Prozent erzielt, und die FDP wollte ihre Koalition mit Helmut Schmidt fortsetzen. Da konnte man als CSU schon zu dem Ergebnis kommen: So geht’s nicht weiter. Aber Helmut Kohl hat richtig reagiert. Er hat gesagt: Wir haben vier Jahre Opposition vor uns, und dann schauen wir mal. Diese ruhige Entschlossenheit half, eine falsche Entscheidung zu korrigieren.

Und heute?

Jetzt sind wir in der Regierung. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Da stellen sich Fragen der Stabilität des Landes und des Parteiensystems auf ganz andere Weise. Im Übrigen wird der Streit geführt über eine Frage, in der die Meinungen in der Union genauso auseinandergehen wie in der Bevölkerung. Fast jeder hat die beiden Herzen in seiner Brust. Niemand möchte inhuman sein, aber fast jeder weiß, dass Ordnung sein muss, damit Humanität möglich bleibt.

Horst Seehofer findet, diese Frage könne er als Minister allein entscheiden. Angela Merkel erinnert an ihre Richtlinienkompetenz. Da kann nur einer nachgeben, oder?

Ich habe in den acht Jahren als Finanzminister nicht Frau Merkel, aber das Kanzleramt manches Mal gereizt, weil ich immer gesagt habe: Innerhalb der Richtlinien des Bundeskanzlers verwaltet jeder Minister sein Ressort selber. Ich weiß also, was Richtlinienkompetenz ist. Deshalb habe ich nicht den geringsten Zweifel: Wenn in dieser Frage ein Minister anders als die Kanzlerin entscheiden würde, hat sie aus der Würde ihres Amtes heraus keine Wahl.

Sie könnte das nicht hinnehmen?

Sie hat keine Bedenkzeit und keine Wahl.

Aber dann …

Beide sind klug genug, es nicht bis dahin kommen zu lassen.

Ja, was sollen sie denn tun?

Ich kann nur hoffen und bin auch sicher, dass beide nach einer Lösung suchen, die nicht nur ihr eigenes Gesicht, sondern auch das Gesicht des anderen wahrt. Alles andere wäre unverantwortlich.

Bisher sehen wir das nicht. Im Gegenteil, es werden alte Vorwürfe aufgewärmt. Spaltet die Kanzlerin das Land?

Nein. Es gab im Jahr 2015 eine Zuspitzung. Aber die Spaltung ist viel älter. Deshalb haben 1992 die Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD das Asylrecht im Grundgesetz geändert – der eine war ich, der andere Hans-Ulrich Klose. Herbert Wehner hat sogar schon in den 70er Jahren sinngemäß gesagt, wenn wir das Problem des Asylmissbrauchs nicht lösen, wird daran die ganze Republik zugrunde gehen, zumindest aber die SPD. Ich kann mich an eine Diskussion mit Strauß erinnern, in der er gesagt hat: Die Chinesen sind nach unserer Rechtsprechung allesamt politisch verfolgt – aber was ist, wenn die alle kommen! Ultra posse nemo obligatur, heißt ein juristischer Grundsatz: Niemand darf zu etwas verpflichtet werden, was seine objektiven Möglichkeiten übersteigt. Darin liegt auch eine Grenze für Politik.

Hat Merkel mit der Entscheidung, die Landesgrenze nicht zu schließen, diese Grenze des Machbaren ignoriert?

Ich glaube nicht, dass es die Entscheidung vom 4. September 2015 selbst war. Es ist danach nicht gelungen, diese Entscheidung zur Ausnahme zu machen. Man hat nicht verhindert oder konnte nicht verhindern, dass die Schlepper ihr Werk taten – und man hat dann zu lange gebraucht, um das wieder einzufangen.

Der 75 Jahre alte Wolfgang Schäuble ist seit 1972 Abgeordneter und damit nicht nur der Dienstälteste im Bundestag, sondern in der ganzen deutschen Parlamentsgeschichte.
Der 75 Jahre alte Wolfgang Schäuble ist seit 1972 Abgeordneter und damit nicht nur der Dienstälteste im Bundestag, sondern in der ganzen deutschen Parlamentsgeschichte.

© Michael Kappeler/picture alliance/dpa

Die Kanzlerin hätte frühzeitig ein Stoppsignal senden müssen?

Es ist nicht meine Aufgabe, ein anderes Verfassungsorgan zu kritisieren.

Reden wir über Lösungswege. Seehofers Zurückweise-Plan will zurück zum Dublin- System. Aber kann das heute überhaupt noch funktionieren?

Der Grundgedanke von Dublin war richtig. Die Verordnung will, dass das Asylverfahren in dem Land geführt wird, in dem jemand registriert ist, und dass man ihn dahin auch zurückführen kann. Dafür kann man bilaterale Abkommen schließen. Diese Debatte, was man an Grenzen machen kann und was nicht – das ist für die Bevölkerung auch nicht überzeugend. Wenn es keinen besseren Weg gibt, muss man eben dort handeln. Aber besser ist es, das Problem europäisch zu lösen.

Sie sagen, der Grundgedanke war richtig. Andere sagen, mit Dublin ist der europäische Grundkonflikt gelegt worden: Die Außenländer sollen die ganze Arbeit machen, und die Binnenstaaten machen dicht.

Die Lösung drängt sich doch auf. Innerhalb oder außerhalb der EU braucht es Zentren, wo die Menschen aufgenommen werden und wo entschieden wird, ob sie bleiben können oder nicht. Und wenn nicht, dann braucht man die Kooperation mit Nachbarstaaten so wie im EU- Türkei-Abkommen. Diese Zentren muss man europäisch betreiben.

Aber niemand will die Menschen danach aufnehmen.

Ich habe da so meine deutschen Erfahrungen: Man sollte diese Debatte nie mit Verteilquoten beginnen. Als man nach der deutschen Vereinigung den neuen Bundesländern gesagt hat: So, ihr kriegt Flüchtlinge nach dem West-Verteilungsschlüssel, da haben die auch heftig protestiert. Angst vor Fremden wächst am stärksten dort, wo es keine Fremden gibt. Gegenüber den Osteuropäern darf man darum nicht arrogant auftreten und erst recht nicht so wie seinerzeit, als die erste Flüchtlingsfamilie aus Griechenland in der EU umgesiedelt wurde. Da flog die halbe Kommission mitsamt dem Parlamentspräsidenten Martin Schulz nach Athen, um den Vorgang zu zelebrieren. So züchtet man Euroskepsis auf Flaschen.

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