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Kemal Kılıçdaroğlu (2. v.r.) wurde bei einer Trauerfeier attackiert.

© Harun Ozalp/Demiroren News Agency/AFP

Türkische Regierungsgegner fürchten neue Gewalt: Entsetzen nach Lynch-Angriff auf Oppositionschef

Nur knapp entging der türkische Oppositionschef Kılıçdaroğlu einem Lynchmob. Regierungsgegner geben Erdoğans aggressiver Rhetorik die Schuld.

Eine offene Tür in der Kreisstadt Çubuk in der Nähe von Ankara hat dem türkischen Oppositionschef das Leben gerettet. „Wenn meine Frau nicht die Tür geöffnet hätte, wäre Kemal Kılıçdaroğlu hier ums Leben gekommen“, sagte Hausbesitzer Rahim Doruk im türkischen Fernsehen. Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei in der Türkei, musste am Sonntag vor einem Lynchmob in Doruks Haus fliehen.

Der Angriff auf den 70-jährigen Kılıçdaroğlu hat die Türkei geschockt. Doch die Attacke könnte erst der Anfang der Gewalt sein, befürchten Regierungsgegner.

Nach dem Angriff nahm die Polizei sechs Verdächtige fest. Einer davon sei Mitglied der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, schrieb Parteisprecher Ömer Çelik am Sonntag auf Twitter. Es werde ein Ausschlussverfahren eingeleitet. Die Verdächtigen würden in Ankara verhört, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Kılıçdaroğlu hatte in Çubuk an der Beisetzung eines Soldaten teilgenommen, der bei Gefechten zwischen der Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK getötet worden war. Solche Trauerbesuche gehören für einen türkischen Politiker zum Alltag. Doch im Kommunalwahlkampf hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinem Gegner Kılıçdaroğlu und dessen Partei CHP vorgeworfen, mit Kurdenpolitikern und damit indirekt mit der PKK zu kooperieren.

Die Saat dieser Rhetorik sei in Cubuk aufgegangen, kommentierte die Journalistin Banu Güven auf Twitter. Kılıçdaroğlu wurde bei der Trauerfeier von Rechtsnationalisten eingekreist und bedrängt, ein Störer schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der inzwischen festgenommene Täter ist Mitglied der Erdogan-Partei AKP. Kılıçdaroğlus Personenschützer konnten den CHP-Chef mit Mühe und Not in Doruks Haus bringen, das in der Nähe vom Tatort steht. „Brennt dieses Haus nieder!“ schrie die Menge draußen.

Erdogan schwieg einen Tag lang zu dem Angriff

Die türkische Polizei, die sonst bei jeder harmlosen Kundgebung mit Tränengas und Wasserwerfern dazwischen geht, hielt sich in Çubuk auffällig zurück. Kılıçdaroğlu wurde schließlich in einem gepanzerten Fahrzeug aus der Gefahrenzone gebracht. Er blieb unverletzt.

Erdoğan schwieg einen Tag lang zu dem Angriff, sprach dann auf Twitter von einem „unerwünschten Vorfall“ und unterstrich, Gewalt werde auf keinen Fall geduldet. Sein rechtsnationaler Bündnispartner Devlet Bahçeli gab Kılıçdaroğlu die Schuld an der Gewalt. Auch Innenminister Süleyman Soylu machte der CHP Vorwürfe: Die Partei pflege eine zur großen Nähe zur Kurdenpartei HDP, die von der Regierung als politischer Arm der PKK betrachtet wird.

Manche Beobachter hegen den Verdacht, dass Erdoğan nach der verlorenen Kommunalwahl in Istanbul die Gegensätze im Land weiter anheizen will, um sich dann bei der beantragten Neuwahl als Retter der Nation zu präsentieren. Schon im Jahr 2015 habe Erdoğan nach dem Verlust der AKP-Mehrheit bei der damaligen Parlamentswahl die Scharte mit Hilfe einer rasch angesetzten Neuwahl wieder ausgewetzt, schrieb die Kolumnistin Cigdem Toker in der Zeitung „Sözcü“.

Ob das Rezept von damals wieder funktionieren könnte, ist aber nicht sicher: Anders als vor vier Jahren steckt die Türkei derzeit in einer tiefen Wirtschaftskrise. Außerdem zeigen sich in der Regierungspartei fast täglich neue Risse. Am Montag rechnete der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu mit Erdoğan ab. Er warf dem Präsidenten in einem Manifest auf Facebook vor, die AKP zu einer Ein-Mann-Show gemacht zu haben. 

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