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Schwarze haben jeden Grund, den Kontakt mit der Polizei zu meiden. Denn sind sie erst mal im Gwahrsam, kann das schnell mit Haft, Vermögensverlust und dem Entzug des Wahlrechts enden. (Foto von Black-Lives-Matter-Protesten in New York am 18. Juli 2020)

© REUTERS/Andrew Kelly

USA: Die Schwarze Angst vor der Polizei: Wenn die Festnahme zur Falle wird

Warum wurde der Tod von George Floyd gefilmt, aber niemand griff ein? Das hat mit einem Justizsystem zu tun, dem wenig an Sachgerechtigkeit liegt. Eine Analyse.

Wolf Wagner ist Professor im Ruhestand an der Fachhochschule Erfurt und lehrte dort Politik. Er forschte als Politikwissenschaftler seit den 1970er Jahre zu den USA.

Das Video, das zeigt, wie der Polizist auf dem Hals des Gefangenen kniet, der die Arme mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt hat, der auf dem Bauch liegt und ruft „I can't breathe“ ist schwer erträglich und der Tod nach mehr als acht Minuten ist ein Skandal.

Dabei ist die Methode selbst zulässige Polizeipraxis, und zwar in vielen Teilen der Welt, auch in Deutschland. Was in Minnesota geschah ist somit wohlbekannt.

Das führt zu der routiniert lässigen Haltung des Polizisten während er auf dem Hals von George Floyd kniet. Er schaut sich mit gelangweiltem Blick mit den Händen in der Hosentasche in der Gegend um, würdigt sein Opfer keines Blicks.

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Da ist nichts zu sehen von Hass oder Leidenschaft. Das acht Minuten dauernde Video zeigt einen Ausschnitt aus mitleidloser Routine in einem Fall jenseits aller Verhältnismäßigkeit. Anlass für den Zugriff auf George Floyd war ein angeblich gefälschter 20 Dollarschein.

Was ist das für eine Routine, die sich da zeigt? Was passiert, wenn Menschen – schwarze Menschen? – um einen Polizisten herumstehen, der jemanden tötet, und das Ganze filmen, aber niemand greift ein, um die Katastrophe zu verhindern?

Einen Teil der Erklärung dafür liefert die US-amerikanische Juristin, Bürgerrechtlerin und Hochschullehrerin Michelle Alexander in ihrem Buch „The New Jim Crow. Masseninhaftierung und Rassismus in den USA“ (Kunstmann Verlag). Nach dem Bürgerkrieg hatten so genannte Jim-Crow-Gesetze in den Südstaaten noch mehr als hundert Jahre lang Schwarze von Wahlen ausgeschlossen.

Michelle Alexander schreibt in ihrem Bestseller nun von einem neuen Jim Crow, weil es im Rahmen des „War on drugs“, des „Kriegs gegen die Drogen“, in den Wohnvierteln der Schwarzen durch die Masseninhaftierung zu einer Wiederholung des massenhaften Ausschlusses von Wahlen kam. Laut der Nachrichtenseite des „Centencing Project“ durften bei der zurückliegenden Präsidentschaftswahl 1,3 Millionen Menschen nicht wählen, weil sie in einem Staat im Gefängnis saßen, der Gefängnisinsassen die Teilnahme an Wählen verwehrt.

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Weiteren 6,1 Millionen Menschen wurden in ihrem Bundesstaat das Wahlrecht verweigert, weil sie wegen eines Verbrechens ein Jahr oder länger im Gefängnis saßen und damit lebenslänglich von Wahlen ausgeschlossen sind. Das kam überwiegend in Bundesstaaten im Süden der USA vor, und es betraf überwiegend Schwarze. Hätten sie alle wählen dürfen, wäre Trump vielleicht nie Präsident geworden.

Michelle Alexander zeigt detailliert, wie der „Krieg gegen die Drogen“ seit 1971 vor allem in den Wohnvierteln der Schwarzen geführt wird und dort Polizei, Justiz und Strafvollzug zu einer florierenden Branche gemacht hat: Am Anfang des Geschäfts steht die Festnahme. Darum kann sie so dramatisch und zugleich routiniert und mitleidlos wie bei George Floyd ablaufen. Sie kann aus noch so nichtigem Anlass erfolgen. Die Hauptsache ist, dass die festgenommene Person in den Gewahrsam der Polizei kommt.

Nur zwei Prozent aller Festgenommenen kamen vor Gericht

Ist man erst mal in den Händen der Polizei, setzt eine Automatik ein, die meist ohne formelles Gerichtsverfahren mit dem Verlust von Wertsachen und einer jahrelangen Gefängnisstrafe endet, und daraus folgend mit lebenslangem Verlust des Wahlrechts, des Rechts auf einen Führerschein und auf Sozialleistungen.

Das überparteiliche PEW Research Center hat im Juni 2019 publiziert, dass im Jahr 2018 nur zwei Prozent aller Festgenommenen vor ein ordentliches Gericht kamen. 90 Prozent landeten nach einem Geständnis im Gefängnis. Acht Prozent kamen frei. Auf der Ebene der bundesstaatlichen Gerichtsbarkeit war die Rate derjenigen, die vor Gericht kamen, noch niedriger.

Zum Vergleich: Das Statistische Bundesamt meldet für 2018, dass in Deutschland 56,8 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, 20 Prozent landeten vor Gericht, 23,3 Prozent der Verfahren wurden an andere Stellen weitergeleitet. Drei Prozent der Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden war, wurden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

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Drei Prozent in Deutschland – und 90 Prozent in den USA. Der Grund für diese eklatante Diskrepanz ist, dass in den USA der Einfluss der Gerichte immer geringer geworden ist, weil die Gesetzgebung zum Beispiel mit obligatorischen hohen Mindeststrafen für Drogendelikte den Entscheidungsspielraum für Gerichte massiv beschnitten hat.

Das gesamte Verfahren ist so zunehmend unter die Herrschaft der Staatsanwaltschaften geraten. Diese bestehen aber nicht wie in Deutschland aus beamteten Volljuristen, die mit der möglichst objektiven Erhebung des Sachverhalts beauftragt sind – also auch damit, für die Beschuldigten entlastende Tatsachen zu ermitteln.

In den USA geht das Rechtssystem nicht von einem ermittelbaren objektiven Sachverhalt aus, sondern von einem Ergebnis, das sich im Wettstreit zwischen Anklage und Verteidigung herausbildendet. Es geht um Sieg und Niederlage. Der Erfolg der Staatsanwälte – und damit die Chancen auf Wiederwahl, denn in vielen US-Bundesstaaten werden sie gewählt – bemisst sich daran, in möglichst vielen Fällen zu siegen.

Ein Schuldeingeständnis ist in den USA ein endgültiger Beweis

Das gelingt am einfachsten und besten durch „deal bargaining“, dem Aushandeln von Abmachungen. Dem Festgehaltenen werden die höchstmöglichen Anschuldigungen mit den dafür maximal denkbaren Höchststrafen präsentiert. Dann erfolgt das Angebot, sich zu einem Teil dieser Anschuldigungen schuldig zu bekennen und so mit einer geringeren Gefängnisstrafe davon zu kommen.

Die meisten Beschuldigten gehen darauf ein, auch weil ein Verfahren vor einem Geschworenengericht mit der Gesamtheit der Beschuldigungen, meist zu hohen Strafen führt. Da in den USA, anders als in Deutschland, ein Schuldeingeständnis als endgültiger Beweis gilt, der keine weiteren Ermittlungen oder Verhandlungen mehr erforderlich macht, gehen 90 Prozent der Beschuldigten auf den Deal ein und landen gleich im Gefängnis.

Das Ergebnis ist eine der höchsten Strafgefangenenquoten pro 100 000 Einwohner auf der ganzen Welt: 2018 USA 655, Deutschland 75. Bei den 655 sind die Schwarzen weit überrepräsentiert. Ein großer Teil von ihnen könnte unschuldig einsitzen, weil sie etwas gestanden haben, nur um nicht noch länger ins Gefängnis zu müssen.

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2018 saßen neun Prozent der Gefangenen in privat betriebenen Gefängnissen, denen eine Belegungsquote von 95 Prozent garantiert worden ist. Mit den Billiglöhnen der Gefangenen betreiben sie lukrative Geschäfte.

Zum Geschäft für Polizei und Gerichte wird die Strafverfolgung auch durch die Praxis der Beschlagnahme. Bei der Festnahme und bei den anschließenden Ermittlungen und Durchsuchungen können Polizei und Staatsanwaltschaft alles verdächtige Material beschlagnahmen.

Die Beweislast, dass die beschlagnahmten Güter nicht aus kriminellen Aktivitäten kommen oder für sie eingesetzt wurden, liegt bei den Beschuldigten. Gelingt dieser Beweis nicht, gehen die beschlagnahmten Güter in den Besitz der Behörden über, die sie für die Zwecke der Strafverfolgung verwerten dürfen. 1984 beschloss der Kongress unter Präsident Ronald Reagan ein Gesetzespaket, in dem diese Praxis für das gesamte Rechtssystem der USA legalisiert wurde.

Eine Festnahme ist damit für Schwarze die Drohung mit dem Verlust von allem, was ein Leben lebenswert macht. Menschen in den Wohnvierteln der Schwarzen haben daher jeden Grund, sich einer Festnahme, wenn irgend möglich, zu entziehen. Und die Ordnungskräfte haben beste Gründe, sie zu erzwingen. In Deutschland kommt es laut Statista pro Jahr zu etwa elf gewaltsamen Todesfällen bei Festnahmen. In den USA sind es etwa 1000 pro Jahr. George Floyds Tod ist dort so gesehen nichts Außergewöhnliches.

Wolf Wagner

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