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Die Masterstudentin und Tutorin Vanessa Hava Schulmann.

© Bernd Wannenmacher

Provenienzforschung mit Gebeinen: Den Kopf schickten sie nach Deutschland

Menschliche Überreste einer Lehrsammlung weisen auf koloniales Unrecht hin. Die Studentin Vanessa Hava Schulmann setzt sich für die Aufarbeitung ein.

Von Marion Kuka

Lange Zeit wurden an Universitäten menschliche Überreste in der Lehre verwendet. Auch an der Freien Universität Berlin sind sogenannte Human Remains in der Zoologischen Lehrsammlung am Institut für Biologie vorhanden. Aber woher stammen sie? Und ist es ethisch vertretbar, sie dort aufzubewahren und von Studierenden in Seminaren untersuchen zu lassen?

Über diese Fragen habe ihre Arbeitsgruppe häufig diskutiert, sagt Katja Nowick, Professorin für Humanbiologie. Mit Unterstützung von Vladimir Bajic, Vladimir Jovanovic und Anne Hartleib, die auch zum Team der Lehrenden gehören, begann die Masterstudentin und Tutorin Vanessa Hava Schulmann im November 2021, die Provenienz der menschlichen Überreste in der Sammlung zu erforschen. Sie dokumentierte rund 20 menschliche Schädel und Zähne sowie Kiefer-, Oberschenkel-, Unterschenkel-, Fuß- und Handknochen, zudem mehrere fast vollständig erhaltene menschliche Skelette und weitere humananatomische Präparate. Hinweise auf deren Herkunft fand sie jedoch kaum.

Die Geschichte der Wissenschaft in Berlin kann nicht getrennt von der Kolonial- und NS-Geschichte betrachtet werden.

Vanessa Hava Schulmann, Masterstudentin an der Freien Universität Berlin

Menschliche Überreste dürfen nach heutigem Stand jedoch nur dann für wissenschaftliche und medizinische Zwecke verwendet werden, wenn ein Nachweis über eine „informierte“ Zustimmung vorliegt. „In Seminaren arbeiten wir inzwischen mit Modellen und diskutieren mit Studierenden über die ethischen Aspekte“, sagt Katja Nowick. Es bestehe grundlegend der Verdacht, sagt Vanessa Hava Schulmann, dass Human Remains aus kolonialem Unrechtskontext stammten: „Die Geschichte der Wissenschaft in Berlin kann nicht getrennt von der Kolonial- und NS-Geschichte betrachtet werden. Deren Folgen waren in der Nachkriegszeit, als die Sammlung aufgebaut wurde, noch sehr präsent.“ Dies zeigt auch das wissenschaftliche Gutachten im Auftrag des Berliner Senats und Decolonize Berlin e. V. zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, in dem die Provenienzforscherin Isabelle Reimann erstmals eine institutionsübergreifende Bestandaufnahme vorlegte und die weitere Provenienzforschung in der Zoologischen Lehrsammlung sowie eine institutionsübergreifende Aufarbeitung empfahl.

Für zwei der menschlichen Gebeine, einen Oberarmknochen und einen Unterkieferknochen, wurde der Verdacht auf einen kolonialen Unrechtskontext bereits bestätigt. Das Team hatte den Provenienzforscher und Anatomieprofessor Andreas Winkelmann von der Medizinischen Hochschule Brandenburg als Experten hinzugezogen. Er verwies auf die Möglichkeit, dass diese beiden Gebeine einst Teil der sogenannten Luschan-Sammlung gewesen sein könnten. Die Sammlung war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von dem Mediziner und Anthropologen Felix von Luschan für das frühere „Königliche Museum für Völkerkunde“ zusammengetragen und 1925 auf mehrere Berliner Universitäten verteilt worden.

Ein großer Teil der Sammlung kam aus den deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifikraum und wurde für menschenverachtende sogenannte Rassenforschung genutzt. Der Oberarmknochen und der Unterkieferknochen wurden im Juli 2022 an das zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehörende Museum für Vor- und Frühgeschichte übergeben, wo zu der Provenienz menschlicher Überreste aus der Luschan-Sammlung geforscht wird.

Was geschah mit dem Kopf des Volkshelden aus Tansania?

Vorgehen und erste Ergebnisse der Untersuchung in der Zoologischen Sammlung wurden kürzlich auf einer öffentlichen Veranstaltung am Institut für Biologie vorgestellt. Dort sprachen auch die Ethnologin und Provenienzforscherin Isabelle Reimann von der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Mnyaka Sururu Mboro, Menschenrechtsaktivist und Mitbegründer der Nichtregierungsorganisation Berlin Postkolonial sowie Gründungsvorstand von Decolonize Berlin. Beide hatten die Sammlung für den oben genannten Report über den Bestand menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten in Berliner Sammlungen begutachtet.

Mnyaka Sururu Mboro, Menschenrechtsaktivist und Mitbegründer von Berlin Postkolonial e.V.

© Bernd Wannenmacher

Der in Tansania geborene Mnyaka Sururu Mboro setzt sich dafür ein, dass menschliche Gebeine und geraubte Kulturgegenstände an die Herkunftsländer zurückgegeben werden. Als Kind habe ihm seine Großmutter von dem Fürsten Mangi Meli erzählt, der gegen deutsche Kolonialisten kämpfte und enthauptet wurde. Seinen Kopf schickten die Besatzer nach Deutschland. Wie viele andere Kämpfer konnte der Fürst nicht so bestattet werden, wie die Tradition es verlangt. Als Mboro zum Ingenieurstudium nach Deutschland ging, nahm ihm seine Großmutter das Versprechen ab, den Schädel des Volkshelden nach Tansania zurückzubringen. Noch hat er ihn – trotz unternommener DNA-Abgleiche – in keiner der Sammlungen gefunden, zu denen er Zugang erhielt.

Für Isabelle Reimann geht es auch um das Selbstbild von Wissenschaft. Häufig werde Wissenschaftsgeschichte als Abfolge von Erfolgen dargestellt. „In unserem Gutachten wurde ein großes Desiderat an Provenienzforschung und Sammlungsgeschichte sichtbar. Die Aufarbeitung der historischen Verwobenheit in Kolonisierung und wissenschaftlichen Rassismus muss mit Selbstreflexion und Übernahme von Verantwortung einhergehen“, sagt die Ethnologin. Was mit menschlichen Überresten aus kolonialem Kontext geschehen soll, könne nur im Dialog mit Nachfahren und Organisationen in Herkunftsländern geklärt werden. Diese sollten dauerhaft an Aufarbeitung und Rückgabe sowie an Formen des Erinnerns und Gedenkens in Deutschland beteiligt sein.

Vanessa Hava Schulmann hofft, mit ihrer Arbeit einen Diskurs über wissenschaftliche und soziale Verantwortung in Forschung und Lehre anzustoßen. Sie appelliert zudem an die Verantwortlichen in der Wissenschaftspolitik, mehr Geld für Provenienzforschung zur Verfügung zu stellen. Um die Recherche im eigenen Haus fortzusetzen, hat die Arbeitsgruppe finanzielle Unterstützung im Rahmen eines Forschungsprojektes beantragt. 

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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