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Aufbau in Syrien: Arbeiter mit Schaufeln in den Straßen von Rakka

© Reuters/Aboud Hamann

Rakka - ehemalige Hauptstadt des IS: "Wir müssen einander vergeben"

Die Häuser zerbombt, überall Sprengfallen. Im syrischen Rakka lebt sechs Monate nach der Vertreibung des IS nur der, der muss. Ibrahim Hassan glaubt trotzdem an den Wiederaufbau.

Der Mordanschlag dauert keine fünf Sekunden. Es ist der Abend des 11. Januar, und Ibrahim Hassan kommt gerade von der Arbeit, als ihm ein Mann mehrmals in den Rücken schießt – und spurlos verschwindet. Hassan überlebt. Doch eine der Kugeln hat sein Rückgrat getroffen und hinterlässt ihn querschnittsgelähmt.

Knapp drei Monate später sitzt Ibrahim Hassan in einem einfachen Rollstuhl neben seinem Krankenbett. Ansonsten ist das Zimmer beinahe leer. Nur zwei Röhrenfernseher stehen noch neben der Tür. Auf einem flimmern die Aufnahmen einer Überwachungskamera. Hassan Ibrahim ist vorsichtig geworden.

Als der Unbekannte auf ihn schoss, war Hassan für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt Rakka verantwortlich, anderthalb Stunden entfernt von Hammam al Turkman, dem Dorf, in dem er lebt. Der Ort ist abgeschottet, alle Zufahrten mit Straßensperren blockiert. Nur durch einen einzigen Checkpoint gelangt man hinein.

Unermüdlich setzt sich Ibrahim Hassan für Menschen in Rakka ein.
Unermüdlich setzt sich Ibrahim Hassan für Menschen in Rakka ein.

© Kniewel

Von Frieden keine Rede

Ein halbes Jahr ist es her, dass Rakka durch das Militärbündnis der Syrischen Demokratischen Kräfte SDF von der Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats befreit worden ist. Vier Jahre lang war es die Hauptstadt des selbst ernannten Kalifats gewesen, nachdem die Dschihadisten 2013 die letzten Rebellen der Freien Syrischen Armee verjagt hatten. Minderheiten und jedem, der sich ihnen widersetzte, machten sie das Leben zur Hölle, am zentralen Naim-Platz ließen sie regelmäßig Menschen öffentlich hinrichten. Fast jeder in Rakka erzählt von toten Verwandten. Rund 80 Prozent der Stadt sind laut den Vereinten Nationen unbewohnbar. Heute lebt in Rakka nur, wer keine andere Möglichkeit hat. Mitarbeiter der Verwaltung wohnen in umliegenden Dörfern – so wie Ibrahim Hassan. Das Leben dort ist ruhiger.

Von Frieden kann in Nordsyrien jedoch keine Rede sein. Genauso wie im Rest des Landes.

Im Gegenteil: Seit Beginn des Jahres sind die Kämpfe im Land heftiger geworden. Das Regime von Baschar al Assad versucht mit allen militärischen Mitteln, zumindest weite Teile Syriens wieder unter Kontrolle zu bekommen. Allein seit Anfang 2018 sind schätzungsweise 500.000 Menschen vertrieben worden. Millionen Frauen, Kinder und Männer sind auf Überlebenshilfe angewiesen. Das Leid zu lindern, ist das erklärte Ziel einer derzeit stattfindenden Geberkonferenz in Brüssel. Milliarden sollen eingesammelt werden, um Hilfsorganisationen ihre Arbeit zu ermöglichen. Bundesaußenminister Heiko Maas hat eine Milliarde Euro für dieses Jahr versprochen. Bei der Geberkonferenz im vergangenen Jahr hatte Deutschland 1,3 Milliarden Euro zugesagt, letztlich aber sogar 1,6 Milliarden ausgezahlt. Anders als die Bundesrepublik stellen andere Staaten zwar erhebliche Summen in Aussicht, überweisen sie jedoch nie an die UN.

Explizit ist die deutsche Spende allerdings nur für die notleidenden Menschen gedacht – nicht für den Wiederaufbau. Dafür, das betonte auch Maas, bedürfe es einer politischen Lösung des Konflikts.

Nur wenig ist angekommen

Es waren Ungerechtigkeit, Chaos, Hass und Sektiererei, die den Dschihadisten den Boden bereiteten. Um die Radikalen ein für allemal aus der Gegend zu vertreiben, wird nun versucht, kluge und effiziente Verwaltungen zu installieren, so- genannte Zivile Räte. Die lokale Bevölkerung zu involvieren, ist absolut erwünscht. Das erklärte Ziel der nordsyrischen Selbstverwaltung ist ein demokratisches System, das alle Ethnien und Religionen in Frieden leben lässt.

Ibrahim Hassan war Ko-Vorsitzender des Zivilen Rats von Tel Abiad, einer Stadt im Norden der Provinz Rakka. Als er gebeten wird, den Wiederaufbau Rakkas zu koordinieren, sagt er sofort zu. Noch immer hofft der Turkmene Hassan auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die bislang bescheiden ausfiel: „Man hat uns im Rat viele Mittel versprochen – angekommen ist nur wenig.“ Er spricht mit weicher Stimme. Und vor allem über seine Arbeit, nicht über das, was ihm widerfahren ist. Nicht sein eigenes Schicksal ist ihm wichtig, sondern das der Menschen in Rakka, denen man helfen müsse.

Ibrahim Hassan ist schon sein ganzes Leben lang Teil der syrischen Opposition, er war Mitglied einer verbotenen Kommunistischen Partei. 1979 wird er gemeinsam mit seinem Bruder von Hafiz al Assads Schergen verhaftet. Doch Hassan hat Glück und kommt nach einem Monat wieder frei. Sein Bruder bleibt für 14 Jahre im Gefängnis. „Wir wollten einfach nur ein besseres Land für alle“, sagt er. Die politischen Verhältnisse bleiben erdrückend – bis zum Aufstand 2011.

„Ich hatte reale Hoffnung, dass sich etwas zum Besseren verändern könnte“, erinnert sich Ibrahim Hassan. Doch schon nach etwas mehr als einem halben Jahr konnte er erkennen, wie das Ausland mit ganz eigenen Interessen – und Geldern – sich einmischte: die Türkei etwa oder die Golfstaaten.

Er selbst versuchte, am zivilen Charakter des Aufstandes festzuhalten und gründete deshalb mit anderen ein demokratisches Komitee zur Verwaltung von Tel Abiad. „Aber die militanten Fraktionen waren gegen uns“, erzählt er. „Diese Einheiten der Freien Syrischen Armee hatten kein gemeinsames Projekt, waren gespalten. Alle hatten ihre eigene Politik.“ So sei es leicht für die Dschihadisten des Islamischen Staats gewesen, die Provinz Rakka ab 2013 schleichend zu übernehmen. Hassan floh in die Türkei – und kehrte erst nach der Befreiung durch die Kurden zurück.

Nun kontrollieren die Syrischen Demokratischen Kräfte fast ein Viertel des syrischen Territoriums. Doch weil die wichtigste Miliz des Bündnisses die PKK-nahen kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind, stößt dies gerade in mehrheitlich von Arabern besiedelten Regionen auf Skepsis und Ablehnung. Dort wirft man ihnen separatistische Bestrebungen und Menschenrechtsverletzungen vor. Immer wieder sorgen Zwangsrekrutierungen für Ärger und Proteste.

Weil er mit den SDF arbeitet, gilt Ibrahim Hassan manchen als Verräter. Doch die nordsyrische Selbstverwaltung ist in seinen Augen eine gute Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Eine Voraussetzung dafür: „Wir müssen einander vergeben.“ Ibrahim Hassan sagt: „Die Saat des IS war das Misstrauen.“

Minen und Sprengfallen töten jeden Tag

In Trümmern. Rakka ist zu großen Teilen unbewohnbar.
In Trümmern. Rakka ist zu großen Teilen unbewohnbar.

© Reuters/Erik De Castro

Minen und Sprengfallen töten jeden Tag

Die Straße nach Rakka führt durch eine karge Landschaft entlang ärmlicher Dörfer. Immer wieder Checkpoints. Was sich schließlich am Horizont abzeichnet, ist eine Ruinenlandschaft. Kaum eine syrische Stadt soll laut UN-Beamten derart heftig zerbombt worden sein wie Rakka. Überall stehen die verkrümmten Skelette ausgebrannter Autos. Kein Haus, das nicht zerschossen oder kollabiert wäre.

Und doch: Rund 75.000 Menschen sollen mittlerweile nach Rakka zurückgekehrt sein, das nach dem Sieg über den IS völlig verlassen war. Vor Ausbruch des Bürgerkrieges wurde die Zahl der Bevölkerung auf 277.300 geschätzt. Noch immer liegen überall zahllose Minen und Sprengfallen in den zerstörten Häusern, jeden Tag töten sie Menschen.

Doch obwohl weite Teile Rakkas noch immer einer Geisterstadt gleichen, gibt es inzwischen fast überall Lebenszeichen: kleine Läden werden wiedereröffnet, Bulldozer wälzen sich durch Staub und Geröll. Gerade in den Randbezirken, dort, wo die Zerstörung am geringsten war, herrscht fast schon so etwas wie Normalität. Im Viertel Meshlab etwa wachsen Palmen auf dem Mittelstreifen einer belebten Straße, überall bieten Geschäfte ihre Waren feil. Schulen haben wiedereröffnet und in ihnen drängen sich hunderte Kinder durch Flure, deren Wände mit Einschusslöchern übersät sind.

Aber die Friedlichkeit und Geschäftigkeit sind auch trügerisch. Nach Einbruch der Dunkelheit, so erzählen die Menschen, traue sich niemand auf die Straße. Dann sterbe alles öffentliche Leben erneut.

Seitdem die Türkei im Januar eine Militäroffensive in Afrin im Nordwesten des Landes startete, herrscht zunehmend wieder Unruhe in der Region. Dass sich arabische Rebellengruppen Ankara andienen, trägt nicht zur Entspannung bei. Die Todesschwadron, aus dessen Kreis vermutlich auch Hassans Attentäter stammt, ist noch für viele weitere Angriffe verantwortlich. Sie erschießen wahllos Kämpfer der SDF. Einfach so, am Wegesrand. Und immer wieder zentrale Akteure der Selbstverwaltung. Jemand möchte die langsam entstehende, gesellschaftliche Ruhe in Nordsyrien stören. Die Auswahl der Ziele lässt daran keinen Zweifel.

Alles dauert zu lange

In Rakka kursieren Geschichten von Schläferzellen der Dschihadisten, von Entführungen, Morden und Erpressungen. „Es gibt hier noch immer viele, die hinter dem IS stehen“, sagt ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der die zerschossene Wand seines Hauses verspachtelt. Er würde ja Tee anbieten, aber sein gesamtes Eigentum sei nach seiner Flucht aus der Stadt geraubt worden. Wie viele, hat auch er nichts für den Zivilen Rat übrig, der Rakka verwaltet und den Wiederaufbau organisiert: er sehe nichts von dessen Arbeit! Drei Monate habe es gedauert, bis endlich die verwesenden Leichen aus der Seitenstraße entfernt worden seien. Die meisten Familien packten nun selbst an, weil sonst alles zu lange dauere.

„Das Regime hat mich Herr genannt, der IS Sheikh. Nun nennt man mich Kamerad. Das ist das Einzige, was sich hier ändert“, sagt der Alte.

Im Stadtteil al Bado umhüllt süßlicher Geruch ein zerstörtes Haus. Fliegen schwirren umher. In den Trümmern des Hauses steht eine Handvoll Männer. Sie tragen dunkle Overalls und rote Helme, die sie als Mitglieder des örtlichen Zivilschutzes ausweisen. Mit Schaufeln versuchen sie, tiefer in einen Hohlraum vorzudringen, wo sie einen toten Körper entdeckt haben. Es ist der fünfte, den sie heute hier ausgraben werden. Die anderen liegen wenige Meter entfernt, aufgereiht in blauen Leichensäcken.

Eine Familie hatte den Zivilschutz gerufen, weil sie zwei Verwandte unter den Trümmern vermutete. Das war vor mehreren Tagen. Seitdem haben die Männer in den Overalls insgesamt 18 Tote aus diesem Haus geborgen. Die Arbeit geht schleppend voran, denn eigentlich bräuchten sie Bagger. Unter anderem. Doch sie haben nur Schaufeln, alles andere Gerät müssen sie stundenweise irgendwo mieten. Insgesamt sind sie 37 Mann, verantwortlich für eine Großstadt. Manche der Männer sind von der Arbeit krank geworden.

In den Leichensäcken liegen eine junge Frau und ein alter Mann. Näheres zu den anderen beiden Toten konnte Mahmoud Hajj Hassan nicht bestimmen. Zu sehr sind sie entstellt. Der 58-jährige Arzt identifiziert alle Leichen, die sie finden. Unter den gegebenen Umständen eine komplizierte Sache. Sie bräuchten DNS-Tests, sagt Hassan. Aber natürlich gibt es die hier nicht. „Also hilft zum Beispiel ein Blick auf den Schmuck, um ihre Identität zu klären.“ Etwa die Hälfte der Toten von Rakka bleibt namenlos. Mahmoud Hajj Hassan nummeriert sie stattdessen. Tote Angehörige nicht zu finden oder nicht zweifelsfrei, sei schwer für die Familien, sagt der Arzt. „So können sie nicht wirklich abschließen.“

Furcht vor Attentaten

Mit dem Frust und Zorn der Menschen in Rakka muss Laila Mustafa täglich umgehen. Die 29-jährige Bauingenieurin ist Ko-Vorsitzende des Zivilen Rats der Stadt, und wenn sie will, dass Ruhe und Stabilität einkehren, muss sie Sicherheit und Perspektiven für die Menschen schaffen.

Laila Mustafa kommt aus Rakka und hat die Stadt direkt nach ihrer Eroberung durch die Rebellen im Jahr 2013 verlassen. Nun lässt der Rat zum Beispiel Trinkwasserstationen errichten und Leitungen legen. Sie erzählt auch von wiedereröffneten Schulen. Finanzielle Unterstützung erhalte der Rat vor allem von den Vereinigten Staaten. Wie viel, will oder kann Mustafa nicht sagen. Weil dennoch überall und für alles Geld fehlt, ist auch sie vor Frust nicht gefeit. Sie sagt: „Der Westen hat den IS unsere Stadt übernehmen lassen und jetzt übernimmt er die moralische Verantwortung nicht.“ Mustafa spricht ruhig und überlegt, während sie eine Zigarette raucht. Eine gewisse Härte liegt in ihrer Stimme. „Die Radikalen haben diese Stadt lange kontrolliert, das hat zu einem Wandel der Mentalität bei vielen geführt“, sagt sie. „Es gibt nun Ehrverbrechen und solche Sachen. Das ist hart. Es braucht noch große Anstrengungen.“

Und die Attentate? Fürchtet sie sich?

Laila Mustafa ist pragmatisch. Jene, die getötet wurden, seien nicht die Ersten gewesen. „Und sie werden nicht die Letzten sein.“

Viele seien gegen die nordsyrische Selbstverwaltung und ihre demokratischen Elemente. Der Iran, das Assad-Regime und natürlich die Türkei. „Sie versuchen, dieses Projekt zu zersetzen, weil sie fürchten, dass es sonst ihr eigenes Land erreicht. Aber wir werden weiterkämpfen. Sonst hätten sie ja gewonnen.“

Auch Ibrahim Hassan möchte so schnell wie möglich wieder für den Aufbau seines Landes arbeiten – wenn es seine Genesung zulässt. Doch auf die Frage nach seiner Prognose fehlt ihm erstmals eine geschliffene Antwort.

Jan-Niklas Kniewel

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