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Aus für die Deutschen in Russland: Bis zuletzt glaubte niemand an das plötzliche Aus für die deutsche Mannschaft.

© Frank Augstein/AP/dpa

Deutschland bei der Fußball-WM 2018: Das Vorrunden-Aus an einem russischen Flughafen

„Die gewinnen doch eh“, sagen sie – und schauen nicht hin. Doch plötzlich wollen alle Zeuge des Untergangs sein. Unser Autor hat das deutsche Debakel in Russland erlebt.

Und dann ist es vorbei. Der russische Polizist schaut in die Runde und sagt etwas. Der britische Geschäftsmann, der neben ihm steht, übersetzt: „Crazy!“ Die letzten Sekunden haben wir hier zusammen vor einem Mini-Shuttlebus gestanden, der Fluggäste vom Sankt Petersburger Pulkovo Airport zu ihren Hotels bringt. Im Inneren des Wagens hängt ein Fernseher. „Crazy!“, sagt nun auch der russische Polizist auf Englisch und lacht, und man weiß nicht so recht, ob er sich über das Wort freut oder über den Wahnsinn, den er gerade erlebt hat.

Als ich kurz darauf das Terminal betrete, steht alles still. Menschen verharren in ihren Bewegungen, irgendwo, wie ausgestellt, hinter der Gepäckkontrolle, beim Check-in-Schalter, vor Rolltreppen. Sie schauen auf die Bildschirme ihrer Smartphones. Sie blicken wie auf eine Naturkatastrohe, die sich gewaltig und grausam vor ihnen aufbaut, aber auch faszinierend und beinahe anziehend wirkt, während im Hintergrund Jim Morrison singt: „This is the end, beautiful friend. This is the end, my only friend, the end.“

Einige flüstern wie auf einer Beerdigung

Als sich die Menschen langsam wieder sammeln, sprechen sie andere Reisende an. Schon gehört? Schon gesehen? Guck mal hier, 2:0, und dann bleiben die anderen stehen, und überall im Terminal entstehen kleine Grüppchen. Einige schreien, jubeln, rufen. Andere flüstern. Vielleicht weil ihnen das in der Situation angemessen erscheint. Auf der Beerdigung eines Fremden schreit man ja auch nicht hysterisch herum. Vielleicht aber trauen sie der Nachricht noch nicht ganz. Es kann eine Täuschung sein.

Aber was mache ich hier eigentlich? Ach, ja. Ich muss nach Kaliningrad, Belgien gegen England, Entschuldigung, bin zu spät, darf ich an der Schlange vorbei? Danke!

Angefangen hat dieser Fußballtag für mich zwei Stunden zuvor. Gegen 16.45 Uhr irre ich durch den Flughafen, auf der Suche nach einem Café, das die Partie zwischen Südkorea und Deutschland zeigt. Aber überall sagen die Bedienungen: „Mexiko, Mexiko“ und zeigen auf die Fans mit Sombreros und grünen Trikots. Germany? Niemand? Schulterzucken. „Gewinnen doch eh“, sagt einer.

Eigentlich könnte man die ganze WM an russischen Flughäfen verbringen und beobachten, wie im Laufe des Tages die Farben an den Abflughallen und Gates sanft ineinander übergehen. Mal dominiert das Gelb der Kolumbianer, mal das Blau der Franzosen, dann plötzlich landet ein Flieger, und alles ist weiß, die Engländer sind da. In den Cafés vermischen sie sich zu einem bunten Mosaik.

Es ist ein ideales Stimmungsbarometer. Die Mexikaner tönen: „Wir werden Weltmeister!“, die Panamaer jubeln: „Wir haben ein Tor gemacht!“, und die Polen sagen: „Scheiß-Fußball!“ Einig sind sich die meisten, dass die Deutschen die beste Mannschaft haben. Klar, gegen Mexiko hätten sie schlecht gespielt. Gegen Schweden sah es aber schon besser aus. Die kommen halt langsam, schau dir doch nur die Spieler an!

Vor dem Flughafen ist eine Art Fanzelt aufgebaut. Aus der Ferne sieht es verlockend aus, aber wenn man drinsitzt, hat es den Charme eines niedersächsischen Autohauses. Kommen gleich Marko Rehmer und Carsten Ramelow für eine Autogrammstunde vorbei? Außer mir sind hier: drei junge Security-Burschen, die sich an einem Kinder-Tischkicker vergnügen. Ein Mann, Typ russischer Dieter Bohlen, der sich über den recht okayen Bierpreis freut, bis er merkt, dass es alkoholfrei ist. Dann noch eine Bedienung, die eher schlecht gelaunt ist, weil sie bis eben eine russische Vorabend-Soap geguckt hat und ich nun frage, ob sie auf das Deutschland-Spiel umschalten könne. Sie sagt Ja, und ich bestelle einen Cappuccino. Er ist kalt.

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In den folgenden 60 Minuten verändert sich dieser Ort kein bisschen. Die drei Jungs spielen Kicker, Dieter Bohlen starrt ins Nichts, die Bedienung schaut auf ihr Smartphone. Dann aber schießt Schweden plötzlich Tore, wie ich parallel in einem Liveticker lese. Augustinsson trifft zum 1:0, Granqvist zum 2:0, während Özil und Kroos weiterhin Flanken ins Nichts zittern.

Wildfremde Fluggäste werden dazugeholt

Ab der 80. Minute füllt sich das Zelt. Ein Mann aus Italien steht hinter mir. „Wie steht’s bei Schweden?“ Dann einer aus Nigeria. „Wäre Deutschland bei einem Tor weiter?“ Und drei Männer aus Belgien. „Unfassbar, so viele gute Spieler, Kroos, Neuer, Boateng, Sané.“ Ja, Sané, denke ich. Der würde vielleicht ein bisschen etwas durcheinanderwirbeln. Aber ich sage nichts, dieses Autohaus ist nicht der richtige Ort, um Dinge zu analysieren. Hier will man glotzen. Hier will man Zeuge einer Katastrophe werden. Und das ist ja auch irgendwie okay. Fußball ist immer dann spannend und überwältigend, wenn er Geschichten erzählt, die neu sind. Den ersten Abstieg des HSV oder das erste WM-Vorrundenaus einer deutschen Mannschaft.

Und dann kommt diese neue Geschichte mit voller Wucht um die Ecke. Südkorea schießt in der 92. Minute das 1:0. Die Menschen fassen sich an den Kopf, wie sich Menschen an den Kopf fassen, die etwas zum ersten Mal sehen. Ein sprechendes Pferd. Eine neue Dimension. Der Tag, an dem sich die DFB-Elf einfach auflöst, verschwindet im Nirgendwo. Sie rufen wildfremden vorbeieilenden Fluggästen zu, dass sie schnell rüberkommen mögen in dieses irre Autohaus, denn hier passiert etwas, dafür würde es sich sogar lohnen, einen Flug zu verpassen. Also rennen die Leute herbei, am Ende klemmen 30 oder 40 Menschen vor den Fernseher, und sie sind gerührt, fast den Tränen nahe.

In der 95. Minute verabschiede ich mich, mein Flug geht gleich, und ich renne zum Terminal, aber da hinten vor dem Shuttlebus winkt ein Geschäftsmann mich herüber. „Come“, sagt er. „You have to see this.“ In der Wiederholung sehe ich, wie Son das 2:0 macht.

Ich schaue nervös zum Terminal, meine Herren, ich muss nun wirklich los, der Flieger nach Kaliningrad. „Good luck“, rufen sie, und ich renne, so schnell ich kann, denn das Boarding hat schon begonnen. Vielleicht aber auch ein wenig aus Angst, dass gleich wirklich Marko Rehmer und Christian Ziege vorbeikommen. Und Erich Ribbeck dabeihaben.

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