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Mesut Özil und Bundestrainer Joachim Löw.

© dpa/Ina Fassbender

Özil und die Nationalmannschaft: "Ein Team muss einen Wertekanon entwickeln"

Profis haben ein feines Gespür für die Identität ihres Teams, sagt Alba-Manager Marco Baldi. Ein Interview über das Versagen des DFB im Fall Özil und Rassismus im Sport.

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Herr Baldi, Mesut Özil hat in seiner Rücktrittserklärung aus der deutschen Nationalmannschaft gesagt: „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber Migrant, wenn wir verlieren.“ Hat er Recht?

Dieser Satz zeigt für mich nur, dass die ganze Angelegenheit völlig aus dem Ruder gelaufen ist.

Wieso?

Hätte Deutschland seinen Weltmeistertitel verteidigt, hätte es diesen Satz nie gegeben.

Also führt halb Deutschland eine Scheindiskussion?

Mich interessiert zunächst mal viel mehr, wie gut und intensiv Özil bei einer WM Fußball spielt und auch wie stark er seine menschlichen und charakterlichen Qualitäten ins Nationalteam einbringt. Ob er die Nationalhymne mitsingt oder seine Vorfahren der dritten oder achtzehnten Einwanderungsgeneration angehören, ist da nicht relevant. Ich denke, das geht vielen so. Und bis heute liegt meines Wissens keine detaillierte Analyse vor, was da eigentlich sportlich bei der WM passiert ist. Stattdessen hat der DFB dem Prinzip Sündenbock nachgegeben.

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Wie meinen Sie das?

In unserem Land haben Populisten derzeit freie Fahrt. Man mag ihre Meinung nicht teilen, aber glaubt, sie zum eigenen Vorteil nutzen zu können. Dass der DFB dieser Atmosphäre unterlegen ist, finde ich fatal. Es wirkt, als sei man froh gewesen, eine andere Ebene als die sportliche zu finden, um jemanden für das schlechte Abschneiden bei der WM zumindest mitverantwortlich machen zu können. Ähnlich wie bei der überproportional präsenten Flüchtlings-, Migrations- und Integrationsdebatte. Als ob das Land keine weiteren drängenden Aufgaben hätte.

Ist das nicht die Art von Rassismus, von der Özil spricht?

Nein. Aber dass man jemandem Verantwortung am Scheitern zuschiebt, ohne eine eigene Analyse vorzulegen – das ist schon ziemlich arm. Und dass Özil unter anderem deswegen wütend ist, kann ich total verstehen, obwohl auch seine Aussagen in der Rücktrittserklärung populistische Elemente enthalten.

Muss es nicht auch beim DFB personelle Konsequenzen geben, wenn sich ein Präsident so vom Populismus treiben lässt, wie Sie es beschreiben?

Ich bin kein Freund dieser generellen ’Kopf ab - Mentalität’. Und ich sehe mich nicht in der Position, jemandem Ratschläge zu geben. Es liegt jedoch nicht nur im Interesse des DFB, die gesamte WM mit all ihren Folgeerscheinungen ehrlich und sorgfältig aufzuarbeiten. Was immer sich daraus als Handlungsbedarf ergibt, muss konsequent im Sinne einer Selbstreinigung und Neuorientierung gemacht werden.

Was hätte der DFB konkret besser machen können?

Ich kann hier nur meine Beobachtung schildern: So, wie sich dieses Team und sein Umfeld in Russland präsentiert haben, hätte es nie für ganz vorne gereicht. Da war zu wenig Substanz durch Geschlossenheit der gesamten Delegation sichtbar.

Woran machen Sie das fest?

Am Umgang mit Sieg und Niederlage. Eine schwierige und verräterische Aufgabe im Sport. Wenn Betreuer, wie nach dem späten Siegtor gegen Schweden, ihre Kinderstube vergessen, dann zeigt sich das. Genauso katastrophal waren die Reaktionen nach dem Ausscheiden und die damit verbundene Schelte. Wenn man so einknickt, sich so auseinander dividieren lässt, wie das Team, die sportliche Führung, sein Umfeld und der Verband, kann keine gemeinsame Identität vorhanden gewesen sein.

"Profis haben ein feines Gespür für die Identität ihres Teams"

Marco Baldi, 56, arbeitet seit über 25 Jahren in der Vereinsführung von Alba Berlin. Der gebürtige Schwenninger spielte selbst in der Basketball-Bundesliga und war deutscher Junioren-Nationalspieler.
Marco Baldi, 56, arbeitet seit über 25 Jahren in der Vereinsführung von Alba Berlin. Der gebürtige Schwenninger spielte selbst in der Basketball-Bundesliga und war deutscher Junioren-Nationalspieler.

© camera4

Was verstehen Sie unter Identität?

Ein Team muss einen Wertekanon entwickeln und sich dazu bekennen. Und zwar nicht durch Lippenbekenntnisse oder irgendwelche Symbole. Man lebt ihn, jeden Tag. Jeder ist bereit, sich mit aller Konsequenz einzubringen und, wenn es dem Ganzen hilft, auch zurückzustehen. Man darf dabei die gemeinsame Absicht vor Augen nie verlieren. Dann wird zumindest für die Vorbereitungs- und Turnierzeit alles andere sekundär.

Ist es nicht schwieriger geworden, so eine Identität im Nationalteam zu schaffen? Man hat das Gefühl, dass sich Spieler heutzutage eher mit einem Klub als mit einem Land identifizieren.

Wir reden hier über Spitzenprofis. Die wissen sehr genau, was alles dazu gehört, das Bestmögliche zu erreichen. Ich kann versichern, dass eine Mannschaft wie beispielsweise Island allein mit ihrem Nationalstolz keine Berge versetzen kann. Das ist Mumpitz. So funktioniert Spitzensport nicht.

Sondern?

Profis haben ein feines Gespür für die Identität ihres Teams und ihrer Teilhabe daran. Sie wissen, dass es hier eine Wechselwirkung gibt. Sehr wesentlich ist, dass sie von der Institution, für die sie antreten, egal ob Klub oder Verband, kontinuierlich vorgelebt und notfalls auch durchgesetzt wird.

Zusammengefasst: Sie halten die aus der Causa Özil entstandene Debatte, in der es ja im Wesentlichen um gesellschaftliche Werte geht und nicht um die teaminternen Prozesse einer Fußballmannschaft, für maßlos übertrieben?

Klar gibt es Rassismus und Diskriminierung in Deutschland, vor allem dort, wo sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensweise gar nicht oder nur oberflächlich begegnen. Aber um das festzustellen, hätte es bestimmt nicht der Erklärung von Özil bedurft. Und der ganzen Vorgeschichte auch nicht.

Aber gefühlt ist der Zeitgeist in Deutschland seit drei Jahren doch ein anderer. Rechtspopulisten sind hierzulande auf dem Vormarsch. Haben Sie persönlich oder bei Ihrer Arbeit mit Alba Berlin keine vermehrten Erfahrungen mit Rassismus oder Diskriminierung gemacht?

Nein, ich habe das nicht festgestellt. Im Gegenteil: Ich glaube, dass sich unsere Gesellschaft in diesen Punkten insgesamt weiterentwickelt, natürlich auch mit herben Rückschlägen. Und daran hat die Mediennutzung einen großen Anteil.

Können Sie das ausführen?

Die Tendenz, auf möglichst kleinem Raum, mit möglichst griffigen Schlagwörtern und Hauptsätzen, möglichst viele Menschen zu erreichen, ist wie gemacht für Populisten. Spalten geht relativ schnell, vereinen und gestalten ist anspruchsvoll und anstrengend. Mich interessiert, wie man auch und gerade medial Differenzierung wieder mehr Raum verschaffen kann. Am Ende geht es darum, ob auch diese Özil-Debatte für mehr als nur Empörung aus verschiedenen Lagern sorgen kann. Ich fürchte nein.

Empfinden Sie die Debatte vielleicht deshalb als ausufernd, weil der Basketball internationaler konnotiert ist als der konservative Fußball und – zumindest in Deutschland – weniger betroffen ist von Diskriminierung oder Rassismus?

Das hat damit nichts zu tun. Rassismus und Diskriminierung sind ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht halt vor irgendwelchen Orten macht. Andererseits hat Sport, insbesondere Mannschaftssport, egal welcher, potenziell überall die gleiche integrative Kraft.

Wenn der Sport schon so eine integrative Kraft hat, ist es dann nicht gerechtfertigt, dass er politische Debatten initiiert und auch führt?

Die wirkliche Kraft des Sports liegt nicht in der Postulierung irgendwelcher Leitsätze, sondern in der Praxis, genauer, in der Begegnung. Und die beginnt und endet nicht in großen Turnieren. Bei und durch Alba Berlin zum Beispiel treffen sich wöchentlich fünftausend Mädchen und Jungen, um gemeinsam zu spielen. Sie lernen sich über ein gemeinsames, regelmäßiges Training und Spiel kennen, entwickeln gemeinsame Ideen, Motive, bringen sich ein, verbinden sich. Freiwillig und einfach so. Sport ist ein stark verbindendes gesellschaftliches Medium. Diese Wirkung und wie man sie im Sinne einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft weiter nutzbar macht, sollte auch Teil der Debatte sein.

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