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Herbsturlaub auf dem Weingut: Mit jedem geleerten Eimer leert sich der Geist

Die große Sehnsucht der Bildschirmarbeiter: Endlich wieder was mit den Händen machen. Wie 50 freiwillige Erntehelfer im Rheingau Trauben abknipsen.

Die Füße in schlackernden Gummistiefeln, auf dem Rücken gewaltige grüne Plastikbottiche, stehen fünf Polen zwischen den Rebstöcken beim Trecker und beäugen die Neuankömmlinge. Etwa 50 Männer und Frauen in Outdoorjacken haben sich vom Schloss her genähert und nun Aufstellung vor zwei Bierbänken genommen, um in die Grundzüge der Weinlese eingewiesen zu werden. Die Stimmung ist gelöst, nicht nur dank des obligatorischen Begrüßungsglases, der didaktische Anspruch entsprechend: Die Rebstöcke immer in eine Richtung abarbeiten, schlechte Trauben einfach wegschneiden, Blätter, die im Weg sind, dürfen abgerissen werden. Alles klar? Alles klar! Jeder bekommt einen Eimer, eine Schere, wer will, auch noch Plastikhandschuhe, und los geht es.

Was die fünf Profis von dem Einsatz ihrer neuen Erntehelfer halten, lässt sich aufgrund der Sprachbarriere leider nicht in Erfahrung bringen. Man kann sich jedoch zumindest einbilden, ein amüsiertes Lächeln in ihren Gesichtern zu sehen.

Es ist Samstagmittag im Rheingau, 60 Kilometer westlich von Frankfurt, zwei Kilometer nördlich des Rheins, 160 Meter über dem Meeresspiegel. Der Kalender sagt Anfang Oktober, der Körper Ende November. Der Himmel über Schloss Vollrads ist grau wie der Schiefer unter den 48 Hektar Rebfläche nahe Oestrich-Winkel. Es ist Regen gemeldet.

Ein Kilo ergibt 800 Milliliter

Trotz der Prognose ist die Weinlesetour auf einem der ältesten Weingüter der Welt, die meist am ersten Oktoberwochenende des Jahres stattfindet, mal wieder ausgebucht. Seit 2000 kann man einen Nachmittag Trauben sammeln, bekommt Vesper und eine Führung durch den Betrieb, dessen Geschichte bis ins frühe 13. Jahrhundert zurückreicht. Eine der 650 000 mitproduzierten Flaschen Riesling folgt später per Post. 52 Euro kostet das Paket, das zur dieser Tage endenden Erntezeit auch noch eine Handvoll andere Weingüter der Region anbieten.

Zügig geht es voran. Viele, die heute dabei sind, waren es schon öfter. Mitunter muss das Schlosspersonal trotzdem mal ermahnen. „Nicht die knallgrünen Trauben, die sind sauer und hart.“ Gefragt seien die bräunlich gesprenkelten. Und bitte nicht so schnell, da hinten hängen noch umgerechnet drei Flaschen. „Ein Kilo ergibt 800 Milliliter.“

Wein und Stein. Der Wohnturm aus dem 14. Jahrhundert ist das Wahrzeichen von Schloss Vollrads.
Wein und Stein. Der Wohnturm aus dem 14. Jahrhundert ist das Wahrzeichen von Schloss Vollrads.

© Moritz Honert

Um möglichst effizienten Einsatz geht es hier heute jedoch nicht. Das Ganze sei vor allem ein Instrument der Kundenbindung, gibt Christine Müller, seit 2009 Co-Leiterin auf dem Weingut, unverdruckst zu. Das ist ja auch erst mal nichts Außergewöhnliches: Woanders können Konsumenten Schokolade kreieren, ihre Namen auf Cola-Dosen schreiben lassen, Turnschuhe designen oder Erdbeeren ernten. Der Unterschied bei der Weinlese ist, dass die eigene Arbeit für viele in etwas Größerem aufgeht. Eine augenscheinlich befriedigende Erfahrung. „Ich verschenke den Wein gerne als meiner Hände Arbeit“, sagt eine Frau aus Bad Homburg. Stolz schwingt mit in ihrer Stimme.

Mit jedem Eimer leert sich der Geist

Nicht wenige Teilnehmer akzeptieren nach dem Einblick in den aufwendigen Herstellungsprozess gerne, dass sie bei Vollrads nicht vier, sondern 12,50 Euro für eine Flasche vergleichsweise erfreulich trockenen und frischen „Kabinett feinherb“ aufrufen. Christine Müller, die mit Swarovski-Ohrringen zur Funktionsjacke das Mondäne und das Handfeste des Winzertums geradezu exemplarisch vereint, kann das nur recht sein.

Vielleicht spielt aber auch die Sehnsucht nach Landlust hinein. „Ich bin schon das zehnte Mal dabei“, sagt Hans-Georg Groß, gerade auf der Suche nach Feuer für sein Zigarillo. Er arbeite für eine Bank in Frankfurt. Schreibtischjob. Da tue es einfach gut, ab und zu mal die Hände zu gebrauchen.

Nach ein paar Eimern, die Handschuhe kleben inzwischen gewaltig, versteht man, was er meint. Schon nach einer Stunde spürt man den Rücken und linst zum Vollernter auf dem Nachbarhügel, doch der Rhythmus des Suchens, Schneidens, Sortierens hat etwas Hypnotisches. Mit jedem geleerten Eimer leert sich der Geist. Gleichzeitig fühlt man sich als Experte, weil man Penicillium (grünlich bläulicher Pilz) von Aspergillus (schwarzer Pilz) zu unterscheiden gelernt hat.

Früher tobte um Vollrads ein Familienkrieg

27. Generation. Mit Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau endete die Zeit von Vollrads als Familienbetrieb.
27. Generation. Mit Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau endete die Zeit von Vollrads als Familienbetrieb.

© picture-alliance/ dpa

Anschauungsmaterial gibt es genügend. 2017 ist für den deutschen Wein, was Christine Müller ein „herausforderndes Jahr“ nennt. Anfang August hagelte es, was niemand erwartet hatte. „Mitte August dann noch mal“. Überhaupt wird alles weniger planbar. Zwar gibt es aufs Jahr nicht mehr Regen, aber die Niederschläge würden extremer. „Manchmal kamen 20 Liter pro Quadratmeter runter.“ Viel mehr, als die Trauben und der eh schon feuchte Boden noch aufnehmen konnten. Das Ergebnis: Schimmel und damit weniger Ertrag.

Um für die Zukunft gewappnet zu sein, wurde höher am Hang ein Feld mit 49 Rieslingklonen angelegt. Es soll studiert werden, welcher wie mit den neuen Gegebenheiten klarkommt. Dass sich etwas ändert, ist nicht zu leugnen. 2011 gab es hier die bislang letzte Beerenauslese, seit 2012 keinen Eiswein mehr. „Früher konnte man in Deutschland keinen Merlot anbauen“, sagt Müller. „Zu kalt.“ Inzwischen ginge das.

Auf Schloss Vollrads gibt es keinen Merlot, sondern ausschließlich Riesling. Gutsleiter Rowald Hepp, herzliches Lächeln, Händedruck wie eine Weinpresse, verfolgt dabei eine schnörkellose Linie: „Nicht laut, sondern elegant, keine Spontangärung, kein Holz.“ Klassisch kann man das nennen oder „Riesling in einem eher kommerziellen Stil“, wie der „Kleine Johnson“ es formuliert. Was aber böser klingt, als es gemeint ist, wenn man sieht, dass auch die wahrlich nicht an Dramen und Tragödien arme Geschichte des Guts von dem Weinführer auf den an britischem Understatement kaum zu überbietenden Satz „Historisch eines des großartigsten Weingüter, jetzt im Besitz einer Bank“ eingedampft wird.

"Dallas im Rheingau"

Die mittelalterlichen Dokumente liegen weggeschlossen im Turm, für die Helfer gibt es aber die Kurzfassung: Der Weinverkauf lässt sich auf Schloss Vollrads zurückdatieren bis ins Jahr 1211. Volle 27 Generationen war das Gut im Besitz der Familie Greiffenclau. Letzter Vertreter: Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau, von dem manch einer der heute Miterntenden, der ihn erlebt hat, noch immer nur ehrfurchtsvoll als „dem Grafen“ spricht.

Matuschka-Greiffenclau arbeitete als Marketingchef beim Büromaschinenhersteller Olivetti, als er 1975 das damals hoch verschuldete Weingut übernahm. Sein Bruder war wegen unstandesgemäßer Hochzeit aus der Erbfolge gestrichen worden. Das Gut zu sanieren, gelang ihm jedoch nicht. Den Wust aus Pech, Gepoker und Eitelkeiten, in dem sich die Beteiligten verstrickt hatten, überschrieb der „Spiegel“ damals mit „Dallas im Rheingau“. Nach dem Konkursantrag erschoss sich Matuschka-Greiffenclau 1997 auf dem Weinberg. Eine Gedenktafel markiert den Ort.

Eigentümer wurde der Hauptgläubiger, die Nassauische Sparkasse. 1999 setzte diese dann Hepp, der vorher schon die benachbarten Hessischen Staatsweingüter Kloster Eberbach geführt hatte, als Leiter ein. Heute arbeitet der Betrieb wieder profitabel. Der Wein trägt 60 Prozent zum Umsatz bei, Restaurant und Veranstaltungen jeweils 20.

Riesling zum Aufwärmen

Punkt 15 Uhr dann fällt der vorhergesagte Regen. Anderthalb Lesebütten sind mit Trauben gefüllt worden. In früheren Jahren war das schon mal mehr. Die Besucher sind trotzdem zufrieden und ziehen gen Restaurant, um sich bei Kürbissuppe, Schinkenbroten und Riesling aufzuwärmen.

Die fünf Polen arbeiten weiter.

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