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Flexibel und fantasievoll. Das Gebäude steht in unmittelbarer Nachbarschaft des Jüdischen Museums.

© Andrew Alberts/ARGE ifau, Heide & von Beckerath

Lindenstraße 60-61: Das Morgen mitgedacht

Ein innovatives Haus an der früheren Blumengroßmarkthalle in Kreuzberg trotzt dem 08/15-Wohnungsbau.

Zu Hunderten entstehen in Berlin derzeit Baublocks mit schematischen Wohnungen wie billige Konfektionsware, die sich dennoch wie geschnitten Brot verkauft. Engagement für neue Wohnformen – interessante, qualitätsvolle, flexibel nutzbare Grundrisse, die für neue Lebenszuschnitte jenseits des Single-Haushalts oder der Vier-Personen-Normfamilie geeignet sind – kann man von den Investoren wohl nicht erwarten. Das macht nur Mehrarbeit, die den Profit schmälert. Auch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften produzieren lieber 08/15-Wohnungen in Serie, denn dem Senat geht es nur um Zahlen, um Wohneinheiten und Quadratmeter, und dies so schnell wie möglich. Und die chronisch unterbesetzten Bezirksämter winken lieber Gewohntes durch, als sich mit Mehrarbeit für die Genehmigung unkonventioneller Bauvorhaben zu belasten.

So kommt es, dass zukunftsweisende Gebäude, die aufhorchen lassen, in Berlin nur vereinzelt realisiert werden, wenn sich Bauwillige zu Projektgruppen oder Genossenschaften zusammentun, um ihre Wohnvorstellungen selbst umzusetzen – wenn nicht die hohen Bodenpreise diese Form der individuellen Wohnraumproduktion mittlerweile im Keim erstickt haben.

Fantasie, Variabilität und Vielfalt

Meist sind es engagierte, an neuen Wohnformen interessierte Architekten, die solche Projekte initiierten und durchsetzten. Wie bei einem Wohnhaus in der Lindenstraße in Kreuzberg unmittelbar neben der ehemaligen Blumengroßmarkthalle, das dieser Tage bezogen wird. Tim Heide und Verena von Beckerath sind ein solches Team, das es schon mit dem viel publizierten genossenschaftlichen Wohnhaus Ritterstraße 50 ins Deutsche Architekturmuseum geschafft hatte (mit ifau und Jesko Fezer).

Bei ihrem Wohnprojekt gegenüber dem Jüdischen Museum traten sie gemeinsam mit dem Büro ifau zunächst sogar als Projektentwickler auf. Irgendwie war es gelungen, für drei dem Berliner Liegenschaftsfonds gehörende Grundstücke ein „konzeptgebundenes Vergabeverfahren“ zu entwickeln. So konnte ein anonymer, den angepeilten Zielen abträglicher Wettbewerb vermieden werden. Denn als wesentliche Ziele für das südlich der Halle gelegene Baufeld waren formuliert worden: eine hohe Vielfalt und Durchmischung der Bewohner- und Nutzungsstruktur mit Ateliers und Wohnungen in Eigentum, genossenschaftliche Wohn- und Studioflächen, Räume für einen sozialen Träger sowie Gewerbeflächen. Dem Charakter des Quartiers entsprechend, sollten vor allem Künstler und andere Kulturschaffende für die Gründung einer Baugruppe angesprochen werden.

Der Fantasie des Nutzungs- und Finanzierungsmodells entspricht jene, die die Architekten für den Bau selbst aufgebracht haben. Von außen ein wenig ungewohnt – mit dunklen, photokatalytischen Fassadenfliesen (die Ozon und Stickoxide zersetzen), voll verglasten Erdgeschossen, Laubengängen an der Südseite und raumhohen Fensterfronten im Norden sowie Austritten an jedem Öffnungsflügel – ist es Architektur mit durchaus großstädtischem Gepräge. Schaut man sich jedoch Schnitt und Pläne an, durchwandert das Gebäude, wird eine erstaunliche Variabilität und Vielfalt deutlich. Im Erdgeschoss – bei Wohngebäuden eine schwierig zu belebende Problemzone – ist es gelungen, Gewerbeflächen unterzubringen; ein Restaurant und ein Fahrradladen haben eröffnet. Die weiteren Fensterfronten bieten Einblicke in Ateliers und Büros. Sie sind zweigeschossig, reichen mit Galerien ins Tief- oder Hochparterre. Manche sind mit Wohnräumen im ersten Stock kombiniert.

Die dunkle Fassade besteht aus mit Titandioxid beschichteten Fliesen, die Luftschadstoffe zersetzen.
Die dunkle Fassade besteht aus mit Titandioxid beschichteten Fliesen, die Luftschadstoffe zersetzen.

© Andrew Alberts/ARGE ifau, Heide & von Beckerath

Um Kosten zu sparen, gibt es nur zwei Treppenhäuser in den Gebäudeköpfen, die durch eine „innere Straße“ (eine rue intérieur wie bei Le Corbusier), durch Laubengänge und einen Dachgang verbunden sind. Von diesen Gängen und fünf begrünten Atrien aus erschließen sich die 66 Wohneinheiten. Die Wohnungen und Ateliers sind in Größe, Zuschnitt und Ausbaustandard je nach Nutzer und Eigentümer sehr unterschiedlich und auch zukünftig variabel veränder- und kombinierbar. Den Bewohnern stehen drei Fahrradräume, Waschküche, ein Veranstaltungsraum mit Dachterrasse und der Dachgarten gemeinschaftlich zur Verfügung.

Die Finanzierung war das Nadelöhr des Projekts

Was derzeit als das Ideal innerstädtischen Bauen beschrieben und gefordert wird – soziale und funktionale Mischung, unterschiedlichste anpassbare Wohnungen, Wohnen und Arbeiten in einem Haus, Verknüpfung mit dem öffentlichen Raum und dem Quartiersleben, Nutzung der Dachflächen und, fast selbstverständlich, ökologische Bau- und Betriebsweise sowie Effizienzhauseigenschaften, haben ifau/Heide & von Beckerath in Kreuzberg realisiert.

Fraglos wird das Haus in Fachkreisen viel Aufmerksamkeit erlangen, aber man muss wohl fürchten, dass sich seine Vorbildfunktion in Grenzen hält. Denn allzu viele günstige Faktoren waren Voraussetzung für das Gelingen. Die Frage der Finanzierung, zum Beispiel mit Querfinanzierungseffekten der unterschiedlichen Nutzer, war das Nadelöhr des Projekts, und mit den heutigen Bodenpreisen wäre es nicht mehr zu stemmen.

Wie es organisiert wurde – nicht von professionellen Immobilienentwicklern oder routiniert-schematisch agierenden Wohnungsbaugesellschaften, sondern von engagierten Architekten, die dafür brennen, zeitgemäße Wohnkonzepte zu entwickeln statt bequem Normwohnungen zu stapeln, die sich wie Developer auch um Finanzierung und Eigentümerzusammensetzung kümmern – ist ungewöhnlich und lässt sich kaum wiederholen. Um solche individuellen Wohnbauprojekte zu ermöglichen, bedarf es der politischen Unterstützung, bedarf es Flexibilität, aber auch der Bereitschaft und Anstrengung aller Beteiligter, der Planungs- und Genehmigungsbehörden sowie der Finanzierungsinstitute. In Berlin trifft man dies nur in Ausnahmefällen an.

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