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Die Berliner Polizei sucht Bewerber mit Migrationshintergrund.

© Kleist-Heinrich

Türkische Einwanderer: Was aus den Gastarbeitern geworden ist

Vor 50 Jahren, am 30. Oktober 1961, unterzeichneten Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen. Gastarbeiter sind die Zuwanderer schon lange nicht mehr. Am 30. Oktober wird im Tagesspiegel-Gebäude zum Thema diskutiert.

Sabahittin Yarici hatte einen Traum. 1973, da war er 18 Jahre, verließ er seine Heimat Türkei, um in Deutschland zu studieren. Er folgte seinem Onkel nach Berlin, der war schon in den 60er Jahren als einer der Ersten nach Deutschland gekommen. Doch Yaricis Traum vom Studium platzte. Sein Fachabitur wollten die Behörden nicht anerkennen. Und selbst als er einen Ausbildungsvertrag zum Maschinenschlosser bei Siemens hatte, wollten die Beamten das nicht gelten lassen. Jedes Jahr musste Yarici seine Arbeitserlaubnis erneuern lassen. Inzwischen ist das für ihn kein Thema mehr. 18 Jahre hat er bei Siemens als Ausbilder gearbeitet, seit 1998 ist er im Betriebsrat und seit 2000 auch deutscher Staatsbürger. Sein Traum hat sich nicht erfüllt, doch bereut hat er seine Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, nicht. „Ich habe ganz neu angefangen, da ist die Schmerzgrenze nicht so hoch“, sagt Yarici.

Vor 50 Jahren, am 30. Oktober 1961, unterzeichneten Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen, das dringend benötigte Arbeitskräfte für die Industrie nach Deutschland bringen sollte. Sie standen bei Siemens an den Maschinen, bei Thyssen am Stahlofen oder bei Daimler am Band. Die Türkei wiederum erhoffte sich, dass ihre Leute viel in der Produktion lernen und dieses Wissen bei ihrer Rückkehr in die Heimat mitbringen. Dass die türkischen Gastarbeiter hier bleiben, war nicht vorgesehen.

Mehr als eine Dönerbude: Die Berliner Firma Kap-lan ist nach eigenen Angaben größter Dönerhersteller Europas.
Mehr als eine Dönerbude: Die Berliner Firma Kap-lan ist nach eigenen Angaben größter Dönerhersteller Europas.

© picture-alliance/ dpa

Inzwischen sind aus den Gastarbeitern Mitbürger geworden. Laut Mikrozensus zählt die türkischstämmige Bevölkerung (ohne deutschen Pass) hierzulande rund 2,5 Millionen, in Berlin sind es knapp 180 000. Sie sind Arbeitnehmer, Unternehmer, Steuerzahler, Transferempfänger und Konsumenten. „Die Gastarbeiter wurden damals angeworben, um einen kurzfristigen Engpass bei den Arbeitskräften zu überbrücken“, sagt Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. „Durch die Zuwanderer hat es einen Wachstumssprung gegeben, von dem wir heute noch profitieren.“

Quantifizieren kann man den Effekt freilich nicht. Aber etwas anderes hat Bonin ausgerechnet: Unter dem Strich profitieren die öffentlichen Haushalte in Deutschland von den Zuwanderern – auch wenn viele von ihnen auf Sozialleistungen wie Hartz IV angewiesen sind. Alles in allem zahlen Migranten mehr an den Staat als sie von ihm bekommen.

Seine Bilanz würde aber noch deutlich besser ausfallen, sagt Bonin, wenn die Integration der Türken in Deutschland besser gelungen wäre. „Im Durchschnitt steht die türkische Bevölkerung schlechter da als der Durchschnitt der Bevölkerung, aber auch als andere Zuwanderergruppen“, sagt Bonin. Beispiel Arbeitslosigkeit: Sie liegt unter den Türken etwa doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. „Das ist allerdings kein Merkmal der Nationalität, eher der Qualifikation“, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Denn es waren vor allem geringqualifizierte Arbeitsmigranten, die nach Deutschland kamen.

Anders gesagt: Die Arbeitslosenquote unter den Geringqualifizierten entspricht der Quote unter der türkischen Bevölkerung – eben weil es hier so viele geringqualifizierte Kräfte gibt. Der Strukturwandel in der Industrie hat sie unter Druck gebracht. „Auch dass es unter den Migranten relativ wenige Selbstständige gibt – etwa im Handwerksbereich oder bei den freien Berufen –, hängt mit der geringen Qualifikation zusammen“, sagt Brenke. Es gibt aber auch andere Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt: schlechte Sprachkenntnisse etwa oder fehlende Netzwerke.

Viele Migranten der ersten Generation haben noch ihren Job in den alten Industrien, die der zweiten oder dritten Generation stehen aber oft ohne Job da. Die Arbeitslosigkeit unter jungen Türken ist besonders hoch. „Aber auch das ist kein Problem der Nationalität“, sagt ZEW-Forscher Bonin. „Wir beobachten auch sonst, dass in Deutschland Kinder aus bildungsfernen Schichten schlechtere Bildungs- und damit Karrierechancen haben.“ Hinzukommt, dass die Türken in Deutschland eine große Gruppe bilden. „Da ist der Anpassungsdruck nicht so groß“, sagt Brenke vom DIW. Und von außen kam der Druck auch nicht: „Die Politik hat den Fehler gemacht, Deutschland als Nicht-Einwanderungsland zu erklären.“

Mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt die Supermarktkette Eurogida in ihren acht Berliner Filialen.
Mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt die Supermarktkette Eurogida in ihren acht Berliner Filialen.

© T. Rückeis

Heute gibt es dennoch mehr als 80 000 türkische Unternehmen in Deutschland, die 2010 etwa 400 000 Mitarbeiter beschäftigten und rund 36 Milliarden Euro umsetzten. Je nach Branche waren dort im Schnitt 35 bis 40 Prozent Deutsche beschäftigt. „Größe und Zahl der türkischen Unternehmen wird in den nächsten Jahren stark zulegen“, sagt Rainhardt Freiherr von Leoprechting, Präsident der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer mit Sitz in Köln. „Das wird viele Arbeitsplätze schaffen, von denen alle profitieren.“ Zwar konzentriere sich ein Gutteil der Firmen noch auf die türkischstämmige Bevölkerung. „Das wird sich aber zunehmend ändern.“

Sabahittin Yarici sagt, Ressentiments gegen Ausländer habe er manchmal verspürt, Benachteiligung in seinem Berufsleben aber nicht erlebt. „Wir sind ein globaler Konzern. Wir können es uns nicht leisten, Leute zu beschäftigen, die Ressentiments gegen Ausländer haben“, sagt der 56-Jährige. Er sieht einen Teil der Verantwortung bei den Eltern. „Wenn die Familie sich nicht um die Bildung kümmert, kann man auch nicht erwarten, dass aus dem Kind ein Ingenieur wird.“ Seine Tochter hat seinen Traum erfüllt. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit. (mit Jutta Meier)

Diskussionsveranstaltung des Tagesspiegels

Sie kamen als Arbeitskräfte. Sie sollten und wollten nie in Deutschland bleiben. Doch dann kam alles anders und heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens, leben fast  drei Millionen Menschen mit türkischer Abstammung in der Bundesrepublik. Über die Probleme des Ankommens und Hierbleibens, über die Erfolge und die Versäumnisse der deutschen  Politik - aber auch der Zuwanderer - diskutieren Barbara John, Tagesspiegel-Kolumnistin und ehemalige Berliner Integrationsbeauftragte, die Autorin und Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün und der Unternehmer Zekeriya Bayrak. Es moderiert Gerd Nowakowski, Leitender Redakteur des Tagesspiegels. 

Die Diskussion findet am Sonntag, 30. Oktober, um 18 Uhr statt (Einlass ab 17.30 Uhr), und zwar im Verlagsgebäude des Tagesspiegels, Askanischer Platz 3, direkt am S-Bahnhof Anhalter Bahnhof. Der Eintritt ist frei.

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