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Der lange Schatten von Martin Winterkorn. Der Ex-VW-Chef soll früher als behauptet von den millionenfachen Manipulationen an Diesel-Fahrzeugen gewusst haben, die vor drei Jahren ans Licht kamen. Der Konzern weist dies zurück. Tausende Anleger erlitten Kursverluste – und klagen gegen den Wolfsburger Autokonzern. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

© picture alliance / dpa

VW-Dieselskandal: Der Aufstand der Aktionäre

In Braunschweig beginnt an diesem Montag der VW-Musterprozess. Es geht um bis zu neun Milliarden Euro Schadenersatz - und die Frage: Wer wusste wann was?

Ein normaler Gerichtssaal ist zu klein für die juristische Dimension, die der VW-Dieselskandal angenommen hat. Das Oberlandesgericht Braunschweig, vor dem an diesem Montag der Musterprozess von Kapitalanlegern gegen den VW-Konzern beginnt, ist deshalb umgezogen. Die Verhandlung findet im Kongress-Saal der Stadthalle Braunschweig statt.

Dabei sieht es auf den ersten Blick gar nicht nach einem Mammutprozess aus. Der 3. Zivilsenat verhandelt zunächst nur über eine Klage der Fondsgesellschaft Deka Investment, einer Sparkassen-Tochter, wegen erlittener Kursverluste. Hinter der Musterklägerin, die Volkswagen vorwirft, den Kapitalmarkt im September 2015 zu spät von den Softwaremanipulationen an elf Millionen Diesel-Pkw informiert zu haben, stehen jedoch weit mehr als 1000 gleichgelagerte Fälle, die ebenfalls Forderungen durchsetzen wollen.

Insgesamt rund 1670 Klagen mit einem Streitwert von neun Milliarden Euro sind beim Oberlandesgericht Braunschweig eingegangen. Ein kleiner Teil davon betrifft auch den VW-Großaktionär Porsche SE, der in dem Verfahren Nebenbeklagter ist. Ginge das Verfahren am Ende zulasten von Volkswagen aus, würde es für VW teuer. Der Dieselskandal hat den Autobauer schon fast 30 Milliarden Euro gekostet. Trotz voller Kasse würden weitere neun Milliarden Euro das Unternehmen wohl in Bedrängnis bringen.

Wer wusste was wann über die Abgasmanipulation?

Deka Investment, der Musterkläger im Braunschweiger Kapitalanleger-Musterverfahren (KapMuG), wird von der Kanzlei von Rechtsanwalt Andreas Tilp vertreten. Neben der Deka vertritt Tilp mehrere Hundert weitere institutionelle Investoren mit einem Klagevolumen von insgesamt mehr als fünf Milliarden Euro. Tilp schätzt, dass der Prozess nach der Reform des KapMuG von 2012 innerhalb von vier Jahren abgeschlossen werden könnte, selbst wenn es bis zum Bundesgerichtshof geht. Das hätten in den letzten Jahren andere KapMuG-Verfahren gezeigt. Geschädigte VW-Aktionäre könnten dann im Erfolgsfall in absehbarer Zeit mit Schadenersatz rechnen. Noch in diesem Jahr hat das OLG in Braunschweig 13 Verhandlungstage angesetzt. Abschreckendes Beispiel ist das Telekom-Verfahren, das seit 17 Jahren läuft.

Dreh- und Angelpunkt im Braunschweiger Mammutprozess ist die Frage, wer was wann über die Abgasmanipulation wusste. Davon hängt ab, ob der Konzern seine Informationspflicht gegenüber den Aktionären erfüllt hat. Dabei ist nach Ansicht von Klägeranwalt Andreas Tilp nicht entscheidend, ob dem früheren Vorstandschef Martin Winterkorn oder dem aktuellen Konzernboss Herbert Diess eine konkrete Mitwisserschaft nachgewiesen werden kann. Die Haftung des Unternehmens gelte auch für „verfassungsmäßig berufene Vertreter“. Das sind Führungskräfte, die wesentliche Aufgaben erfüllen, also etwa Leiter der Entwicklungsabteilung und Markenvorstände. „Wir haben Hinweise, dass eine Reihe dieser verfassungsmäßig berufenen Vertreter Bescheid gewusst haben, und das wird dem Unternehmen zugerechnet“, argumentiert Tilp.

Er weist darauf hin, dass geschädigte VW-Aktionäre und Anteilseigener der Porsche SE ihre Ansprüche bis spätestens Ende des Jahres geltend machen müssen. Danach seien sie verjährt. Möglichen Anspruch haben laut Tilp Aktionäre, die VW- und Porsche-Anteilsscheine zwischen Juli 2012 und dem 17. September 2015 gekauft haben – einen Tag, bevor die Manipulationen bekannt wurden. Die Aktionäre hätten viel zu viel für ihre Aktien bezahlt.

Tilp hält VW eine mangelnde Aufklärung vor. In Wolfsburg habe man sich auf den Skandal in den USA konzentriert. Angeforderte Unterlagen lege das Unternehmen nicht vor, obwohl es dazu verpflichtet sei. Generell konzentriere sich Volkswagen auf Bußgeldforderungen und lasse das Thema Entschädigung außen vor. Tilp wirft VW vor, Unterlagen vernichtet zu haben. Gleichzeitig habe der Konzern Betrug eingeräumt. Daraus ergebe sich eine Beweislastumkehr: Nicht die Kläger müssten VW Verstöße und Schädigung der Anleger nachweisen, sondern VW müsse belegen, dass dies nicht so ist.

Tilp zufolge hätte der Konzern 2008 handeln müssen

Nach Darstellung des Konzerns hat die Unternehmensspitze erst durch die Veröffentlichung der US-Umweltbehörde am 18. September 2015 von der Tragweite des Abgasskandals erfahren. Bis dahin sei man davon ausgegangen, dass es sich in erster Linie um ein „Vertriebsthema“ in den USA handele, das in Verhandlungen mit den Behörden gelöst werden könne. Als nach eigenen Nachforschungen klar wurde, dass weltweit rund elf Millionen Diesel von dem Betrug betroffen waren, hatte VW die Börse in einer Pflichtmitteilung informiert und die Gewinnziele kassiert. Viel zu spät, wie die Kläger meinen.

Tilp zufolge hätte der Konzern schon 2008 handeln müssen, als klar geworden sei, dass die Produktion eines sauberen Diesel, mit dem VW dem Selbstzünder in den USA zum Durchbruch verhelfen wollte, nicht möglich war. „Schon da hätten die Finanzmärkte informiert werden müssen. Schließlich ging es um eine Schlüsseltechnologie.“ Erst danach habe der Einsatz von Betrugssoftware begonnen, bevor dann im März 2014 die Vertuschungsphase bei VW begonnen habe.

Dass VW auch gegenüber Anlegern in der Pflicht steht, ergibt sich für Tilp auch aus Ereignissen seit der Einreichung der Klage im August 2017: VW-Manager seien zu Geldstrafen verurteilt oder verhaftet worden, wie etwa Audi-Chef Rupert Stadler. VW habe etliche Modelle wegen illegaler Abschalteinrichtungen zurückrufen müssen, an der Spitze des Unternehmens habe es den Wechsel von Matthias Müller zu Diess gegeben und schließlich habe die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen VW wegen Verletzung von Aufsichtspflichten ein Bußgeld von einer Milliarde Euro verhängt.

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