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Sich den Tatsachen stellen. Wenn wir wissen, dass die Ursache unserer seelischen Wunden immer in fehlender Begegnung zu finden ist, haben wir damit zugleich den Schlüssel für unsere Heilung: die Fähigkeit, den inneren und äußeren Dialog zu entwickeln und auf dieser Grundlage zu unserer tatsächlichen Identität zu finden. Foto: Ina Fassbender/dpa

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Weiterbildung: Den inneren Dialog suchen

Ursache für einen Burn-out ist nicht die berufliche Überlastung, sondern der Verlust der Beziehung zu sich selbst. Wie man dem entgegenwirken kann.

Wenn wir ehrlich sind, weiß jeder von uns im tiefsten Inneren, ob das, was er tut, richtig ist. Nicht im moralischen Sinne, sondern in seinem Sinne. Ob das Leben, das wir führen, das eigene Leben ist, ob das, was wir tun und sagen, wir sind – und wenn wir ehrlich sind, wissen wir ganz genau, wenn es dies nicht ist. Interessanterweise wusste jeder meiner Patienten sogar, zu welchem Zeitpunkt es begonnen hatte, „bergab“ zu gehen, an welchem Punkt er hätte die Spur wechseln müssen, um nicht krank zu werden oder zu scheitern – es aber nicht getan hat. Bei einigen lag der Zeitpunkt fünf Jahre zurück, bei manchen zwei und bei anderen wenige Monate. „Wenn du jetzt weitermachst, wirst du krank werden.“ –

„Trenne dich, solange du noch kannst.“ – „Nimm den Auftrag nicht an.«“ – „Lass dich nicht auf diesen Menschen ein.“ So oder ähnlich berichteten die Betroffenen von ihrer inneren Stimme, die sie jedoch – warum auch immer – geflissentlich überhörten und mehr oder weniger bewusst beiseiteschoben. So lange, bis es nicht mehr ging. Wann sind wir bereit, uns zu verändern? Wenn wir feststellen, dass wir unglücklich sind? Wenn wir unseren Job verlieren? Unsere Partnerschaft scheitert? Oder warten wir so lange, bis unsere Gesundheit uns dazu zwingt? Wann sind wir bereit zu sagen: „Mir reicht es!“, und uns von dem zu befreien, was uns in unserem Leben blockiert? Wann sind wir bereit für einen Spurwechsel?

Leben ist Beziehung

Als ich damals in der Klinik Menschen mit einem Burn-out zu behandeln begann, wurde mir relativ schnell klar, dass es nicht, wie es die gängige Meinung vertrat, die Überlastung an sich war, die in die Erschöpfung geführt hatte, sondern dass die Ursache ganz woanders lag: Jeder der Betroffenen befand sich in konfliktreichen Beziehungen oder hatte keine sozialen Kontakte mehr, und jeder von ihnen hatte die Beziehung zu sich selbst verloren. In dieser Zeit wurde mir deutlich, dass Gesundheit und Krankheit auf einen Grundsatz zurückzuführen sind, und ich erkannte, dass es der Aspekt der Beziehung ist, der darüber entscheidet, ob wir gesund leben oder ob wir krank werden: Wenn Beziehung nicht gelingt – und ich spreche nicht nur von zwischenmenschlicher Beziehung –, dann kann auch das Leben nicht gelingen. Leben ist Beziehung. Wir stehen ständig in Beziehung. Beruflich wie privat. In Beziehung zu uns selbst, zu den Systemen, in denen wir uns befinden, und natürlich auch in Beziehung zum Leben und den Situationen, die es mit sich bringt. Krankheit, Blockade, Scheitern entsteht überall dort, wo Beziehung scheitert. Diese Erfahrung prägt seitdem meine Arbeit und daraus ist folgender Grundsatz entstanden: Leben ist Beziehung. Beziehung ist Begegnung. Begegnung ist Dialog. Wenn Menschen feststellen, dass ein Spurwechsel in ihrem Leben notwendig ist, dann erkennen sie es meist erst dann, wenn sie am Ende einer Sackgasse mitten vor der Wand stehen, und daran, dass die Beziehungen, die sie führen, seit Langem nicht mehr gelingen. Rückblickend beschreibt jeder von ihnen das Gefühl, „nicht er/sie selbst gewesen zu sein«, und beschreibt ein Leben, in dem er entweder nur noch funktioniert oder eine Rolle eingenommen hat, die ihm „vom Gefühl eigentlich nicht entspricht“. „Ich lebte und tat im Außen etwas, das ich innerlich nicht war“, „Ich hielt eine Fassade aufrecht, die das Gegenteil von dem ist, wie ich mich innerlich fühlte“, „Ich sagte Ja, obwohl ich innerlich Nein meinte“, „Ich hielt an einer Situation fest, obwohl ich spürte, dass sie nicht richtig war“, … berichten die Betroffenen.

Sie alle befanden sich in einem permanenten Widerspruch

Ich erinnere mich an einen Mann, der vor einigen Monaten in die Praxis kam und sagte: „Ich habe Jahre an einem Job festgehalten, obwohl alle um mich herum sagten: ’Lass es’ – erst jetzt, wo ich krank bin und mein Körper mir die Grenze setzt, erst jetzt, wo ich nicht mehr kann – kann ich aufhören.“ Während einigen bewusst war, dass die Ursache für ihre Situation in ihnen lag, bemerkten andere das Unglück zunächst nur im Außen. So berichteten viele, dass von einem bestimmten Zeitpunkt an immer mehr schiefging. Sie fanden sich in wachsenden, für sie nicht nachvollziehbaren Konflikten mit ihrem Umfeld wieder, kamen in ihrem Leben nicht mehr voran und ihnen gelang immer weniger. Aus irgendeinem Grund gerieten sie immer wieder an die falschen Personen, ihnen wurden berufliche Möglichkeiten verwehrt oder vor der Nase weggeschnappt, alles, was sie angingen, scheiterte oder lief mehr schlecht als recht – manchmal nur beruflich, manchmal nur privat und manchmal in jedem Lebensbereich. So unterschiedlich die Betroffenen über ihre Situation berichteten, so litten alle unter folgendem Symptom: Sie alle befanden sich in einem permanenten Widerspruch. Diejenigen, die erkannten, dass sie die Ursache für die Blockade in ihrem Leben waren, beobachteten, dass sie immer wieder das taten, von dem sie wussten, dass es nicht richtig war, oder sie taten nicht das, was sie eigentlich wollten und wonach sie sich sehnten. Die anderen wurden mit einem permanenten Widerspruch um sich herum konfrontiert: So sehr sie sich auch bemühten, das Leben brachte ihnen das Gegenteil von dem, was sie sich eigentlich wünschten. Sosehr sie sich anstrengten, sie „kamen nicht an“ und landeten am Ende dort, wo sie gerade nicht hinwollten.

Nach dem dritten Bandscheibenvorfall hielt der Unternehmer inne

Wie es dazu kommen konnte, war keinem von ihnen klar. Auch nicht, wie wichtig der innere Dialog, die Verbindung mit dem eigenen Selbst, sein könnte. „Ob ich mich für mich interessiere? Wie definieren Sie Interesse?“ „Wie ich mich fühle? Das kann ich nicht sagen, können Sie mir nicht einen Tipp geben, wie man sich in so einer Situation wie in meiner fühlen würde?“ „Warum ich nicht auf meine innere Stimme gehört habe? Ich weiß auch nicht. Es ging irgendwie nicht.“ „Was, bitte, hat die Beziehung zu mir selbst mit meinem Leben zu tun?“, fragte ein Unternehmer, der erst nach dem dritten Bandscheibenvorfall innehielt und sich die Frage stellte, was eigentlich nicht stimme.

So selbstverständlich sie eigentlich sein sollte, die Beziehung zu uns selbst, so abstrakt ist sie für die meisten von uns – oder haben Sie sich, wenn Sie ehrlich sind, schon einmal Gedanken über Ihre Beziehung zu sich selbst gemacht? Haben Sie sich schon einmal von sich aus gefragt, wie Sie zu sich stehen? Wie Sie mit sich umgehen? Ob das, was Sie tun und leben, wirklich Sie sind? Nicht nur am Wochenende oder an ein paar Tagen im Monat – sondern in jedem Moment, in jedem der sechs Lebensbereiche? Die meisten von uns halten die Beziehung zu sich selbst so lange für normal und machen sich darüber keine Gedanken, bis sie sich in einer beruflichen, privaten oder gesundheitlichen Sackgasse in ihrem Leben befinden und dadurch erkennen, dass sie sie entweder gar nicht (mehr) haben, nie wirklich gehabt haben – oder dass sie in keiner guten Beziehung zu sich selbst stehen.

Wenn wir ein Leben führen wollen, das uns entspricht, dann können wir das nur, wenn wir wissen, wer wir sind. Wir brauchen die Verbindung zu uns selbst, zu unserem Wesenskern, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Dort liegt unsere Kraft verborgen – dort finden wir Antrieb und Energie – dort liegt die Grundlage für unser Leben und unsere Bestimmung. Fehlt uns diese Verbindung, fehlen uns Maß und Inhalt für das, was wir brauchen und können – und am Ende auch tatsächlich wollen. Wir setzen falsche Grenzen, brennen sukzessive aus und haben nicht die Möglichkeit „nachzuladen“. Wir verlieren die geistige Kraft der Konzentration, die körperliche Kraft durch psychische Erschöpfung und auf der Verhaltensebene verlieren wir die Kraft zu handeln. Zugleich leben wir ein Leben fern von uns selbst. Es ist die Verbindung zu uns selbst, die uns unser Leben ermöglicht. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt für Gesundheit, Wachstum und Erfüllung.

Das Ganze sei doch sehr "schwammig", sagte ein Wirtschaftsprüfer

„Gibt es eigentlich eine Benchmark dafür?“, fragte ein Wirtschaftsprüfer während eines Vortrags. „Rational kann ich das alles nachvollziehen, aber das Ganze ist doch sehr ’schwammig’ – woran erkenne ich, dass ich mit mir in Beziehung bin?“ Nachdem der Vortrag zu Ende war, kam er noch zu einem kurzen Gespräch und fragte: „Und wenn ich vielleicht feststelle, dass ich es nicht bin, wie kann ich das ändern?“ Mit sich in Beziehung zu sein beschreibt die Fähigkeit des inneren Dialogs, die Fähigkeit des inneren Zwiegesprächs, und auf dieser Grundlage so zu handeln, wie es unserem Wesen entspricht. Dieser innere Dialog ermöglicht uns, unser inneres Gleichgewicht herzustellen und zu halten – und auf dieser Grundlage ein starkes und belastbares Auftreten im Außen. Die innere Dialogfähigkeit ist die Grundlage für eine starke Dialogfähigkeit im Außen und gleichzeitig auch für die Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen. In unserem Wesenskern ist alles enthalten – vor allem unsere innere Stimme, die uns sagt, was richtig für uns ist. Verleugnen wir diese, werden wir krank, wir schlagen falsche Wege ein und unser Leben gerät ins Stocken. So steigt zum Beispiel die Quote der Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen proportional zu dem fehlenden inneren Dialog.

In den letzten Jahren ist der Begriff „Achtsamkeit“ immer populärer geworden. Der innere Dialog beinhaltet nicht nur die Achtsamkeit, sondern auch das Erkennen seines Selbst und auf dieser Grundlage das stimmige Handeln im Außen. Welche Elemente es für den inneren Dialog gibt, warum diese gleichzeitig Grundlage für Gesundheit und äußeren Erfolg sind, wie man ihn herstellen kann, wenn man erkennt, dass dieser nicht vorhanden ist – und vor allem, warum wir diesen überhaupt verlieren, all dies ist ein zentraler Teil meines Buches.

Fehlt der innere Dialog,landen wir in der Sackgasse

An dieser Stelle möchte ich Ihnen zunächst nur ein erstes Verständnis darüber vermitteln, denn es ist gerade diese Fähigkeit „bei sich zu sein“, dieser innere Dialog, den wir für einen Spurwechsel in unserem Leben brauchen. Sein Fehlen ist einer der beiden Gründe für die Sackgasse und unser Leid in unserem Leben.

So berichtete eine Klientin, sich gegen ihre innere Stimme für ein berufliches Projekt entschieden zu haben. „Obwohl ich nicht wollte“, sagte sie, „habe ich dennoch zugesagt.“ Den beginnenden Tinnitus, den sie kurz nach Übernahme des Projekts bekam, versuchte sie zu ignorieren, ebenfalls die Schlafstörungen – erst als sie immer mehr in körperliche Erschöpfung rutschte und eines Nachts mit Herzrhythmusstörungen in die Klinik musste, hielt sie inne. „Am Ende war es mein Körper, der mich dazu zwang, das zu tun, was ich hätte von Beginn an tun sollen“, sagte die Frau.

Eine Frau berichtete, dass sie jahrelang in einer beruflichen Situation verharrte, obwohl „alles in ihr“ gegen dieses System rebellierte – erst als sie unerklärliche Schmerzen entwickelte, entschied sie sich für einen Spurwechsel. Sosehr jeder von uns es sich wünscht, „authentisch“ und er selbst zu sein, so selbstverständlich scheint es für die meisten von uns, dies am Ende nicht zu sein. Ab wann sind wir bereit, zu uns zu stehen? Ab wann sind wir bereit, hinzuhören, innezuhalten und dem, der wir sind – oder auch nicht sind –, Rechnung zu tragen? Und vor allem – was ist die Ursache dafür, dass wir dies nicht können?

Wer glücklich sein will, der muss sich zunächst von all dem befreien, was ihn an seinem Glück hindert. Je länger Menschen in ungelösten Situationen verharren, umso häufiger geschieht es, dass sie den Glauben verlieren, sich daraus befreien zu können. „Ich habe das Gefühl, es einfach nicht zu schaffen, etwas in meinem Leben zu ändern“, behauptete eine Frau. „Das Leben ist gegen mich“, sagte ein Mann. „Ich habe aufgehört, daran zu glauben, dass es für mich einmal gut werden wird«, offenbarte eine andere Frau. „Vielleicht gibt es für mich eben kein Glück“, so ein erschöpfter Mann. „Ich bin nun Mitte 40, mein Leben liegt in Trümmern – zehn Jahre früher, da hätte ich vielleicht noch die Kraft für Veränderung und das Vertrauen darauf gehabt. Aber jetzt?“

Jeder hat das Recht auf ein zufriedenes Leben

Vielleicht geht es Ihnen genauso. Vielleicht haben auch Sie angefangen, innerlich aufzugeben, zu resignieren, und vielleicht sogar begonnen, an Ihr Unglück zu glauben. Vielleicht sind auch Sie der Überzeugung, dass Sie es nicht verdient haben, glücklich zu sein, und es Ihnen nicht mehr besser gehen wird. Dass das Leben immer so bleibt, wie es jetzt ist.

Ich möchte Ihnen nachdrücklich vermitteln, dass dies nicht der Fall sein muss. Jeder von uns hat das Recht auf ein erfülltes und zufriedenes Leben, und jeder von uns trägt die Möglichkeit für ein solch erfülltes und zufriedenes Leben in sich. Wenn Sie sich im Moment in einer Sackgasse befinden und zweifeln – egal ob an sich selbst, einem befriedigenden Job, erfüllenden Beziehungen oder an einem zufriedenen Leben –, wenn Sie mitten in der Nacht oder am frühen Morgen mit klopfendem Herzen, voller Angst vor der Zukunft, aufwachen, dann kann ich Ihnen sagen: Das, was Sie da denken und fühlen, sind nicht Sie. Ich weiß, dass sich dies für Sie im Moment wahrscheinlich merkwürdig anhört. Wahrscheinlich werden Sie sich sagen: Wieso sollte ich das nicht sein? Ich denke und fühle doch all das in mir – also bin ich es auch. Nein, das sind Sie nicht. Das Problem ist nur, dass Sie sich dafür halten.

Warum halten wir an unserem Unglück fest? Es ist nicht die Frage, dass wir nicht gut sind, sondern vielmehr, was dazu führt, dass wir dies nicht glauben. Es ist nicht die Frage, dass das, was wir sind, nicht genügt – es ist die Frage, was uns davon abhält, das zu leben. Was hält uns davon ab, wir selbst zu sein? Eine unerfüllte oder permanente berufliche Konfliktsituation, Unzufriedenheit im privat-individuellen Bereich, körperlicher Verfall, gesundheitliche Probleme … Man sollte meinen, dass wir in dem Moment, wenn wir unglücklich sind, innehalten und uns fragen, was wir tun können, um uns daraus zu befreien. Man sollte meinen, dass wir im selben Moment, in dem wir feststellen, dass wir uns auf der falschen Spur befinden, die Spur wechseln. Dass wir alles dafür tun, um das zu leben, was uns entspricht – oder zumindest uns von dem zu befreien, was uns krank und unglücklich macht. Doch warum tun wir dies nicht? Im Gegenteil – warum verharren wir, manchmal jahrelang, manchmal jahrzehntelang, manchmal unser Leben lang, in dem, was uns nicht gefällt?

Ich selbst bin Weg und Schlüssel meiner Heilung

Am Anfang eines jeden Spurwechsels stehen folgende Erkenntnisse: 1. So, wie es jetzt ist, will ich nicht mehr weitermachen. 2. Ich trage die Ursache meiner Probleme in mir. 3. Ich selbst bin Weg und Schlüssel meiner Heilung. Es gibt zwei Dinge, die wir brauchen, damit uns ein Spurwechsel gelingt und wir die Chance haben, zu unserem vollen Potenzial finden: 1. Die Auflösung der inneren Realität. 2. Die direkte Kontaktaufnahme zu unserem Wesenskern. Beides ist gleichermaßen wichtig. Es reicht nicht, dass wir uns nur von dem befreien, was uns blockiert und am Leben hindert, sondern wir müssen gleichzeitig das nachholen, was uns bis heute für einen Spurwechsel gefehlt hat und was wir von unseren Eltern hätten lernen müssen: den Kontakt zu uns selbst aufzunehmen und in den inneren Dialog zu treten. Letzteres ist ein zentraler Punkt für die eigene Heilung und wird meist außer Acht gelassen. Meiner Erfahrung nach ist dies unter anderem die Ursache, warum am Ende ein Spurwechsel dann doch nicht gelingt. Wenn wir nicht von Beginn an erkennen, dass wir mehr sind als unsere innere Realität, dann können wir uns nicht wirklich von ihr befreien. Der innere Dialog gibt uns Kraft für ihre Auflösung und wir können auf dieser Grundlage das Vertrauen und die Stärke entwickeln, um durch diesen schweren und schmerzhaften Prozess zu gehen. Ein tatsächlicher Spurwechsel ist ein Transformationsprozess: Er ist das Wechseln der Bewusstseinsebene, die Bewusstwerdung des tatsächlichen Ich und – im spirituellen Sinne – die Befreiung vom Ego.

In meinen Beratungen und Seminaren werde ich häufig nach dem Wie gefragt. Wie ist es möglich, sich von etwas zu befreien, das ich zu meiner Identität gemacht habe? Wie kann ich aufhören, das zu tun, von dem ich rational weiß, dass ich es eigentlich nicht will? Wie kann ich mit mir selbst in Beziehung treten? Wie geht „loslassen“? Auch wenn jeder von uns seinen ganz eigenen Weg zu gehen hat, gibt es doch Schritte, die auf dem Weg des Spurwechsels von jedem gegangen werden müssen – auf die jeweils individuelle Art und Weise, mit dem entsprechenden Tempo und der notwendigen Intensität. Im weiteren Verlauf möchte ich Ihnen vor diesem Hintergrund ein Prinzip mit an die Hand geben, das ich im Laufe meiner Arbeit mit Menschen entwickelt habe, die sich von ihren inneren Realitäten befreit und zu sich selbst gefunden haben. Es bietet Orientierung für einen Spurwechsel und ist gleichzeitig die Grundlage für ein resilientes Leben. Es zeigt, wie wir Gesundes in unser blockiertes Leben bringen, wie wir uns von Blockaden befreien und dadurch uns selbst heilen und ein erfülltes Leben erreichen können.

Wenn wir wissen, dass die Ursache unserer seelischen Wunden immer in einem zu finden ist, nämlich in fehlender Begegnung, dann haben wir damit zugleich den Schlüssel für unsere Heilung in der Hand: die Fähigkeit, den inneren und äußeren Dialog zu entwickeln und auf dieser Grundlage zu unserer tatsächlichen Identität zu finden. In Anerkennung, dass jede seelische Wunde durch fehlende Begegnung entstanden und Leben gelingende Beziehung ist, vertritt das Dialogprinzip den Grundsatz „Heilung durch Begegnung“. Es sieht den Dialog dabei als das Mittel zur Begegnung und erkennt in ihm die entscheidende Kraft für ein Leben in Erfüllung.

Der Dialog lässt Energie und Neues entstehen

Das mag für viele zunächst schwer nachvollziehbar sein, da sie den Dialog lediglich als eine rein zwischenmenschliche, verbale Kommunikationsform verstehen. Dabei ist er weitaus mehr. Wenn ich von Dialog spreche, dann spreche ich von jeglicher Begegnung an sich: der zwischenmenschlichen Begegnung, der Begegnung mit dem Leben, mit dem System, in dem wir uns befinden, der Begegnung mit uns selbst, der Begegnung mit unseren Gedanken und Emotionen. „Heilung durch Begegnung“ bedeutet, auf jeder Ebene fähig zum Dialog zu sein. Es bedeutet, im stetigen Austausch zu sein, die Fähigkeit, aufzunehmen und abzugeben, denn nur wenn ich aufnehme, kann ich auch wieder abgeben. Nur wenn ich annehme, kann ich wieder loslassen. Der Dialog lässt Energie und Neues entstehen, während Verdrängung und Kampf Energie rauben und zum Stillstand führen.

Sie werden es an sich selbst feststellen können oder schon festgestellt haben – wenn Sie Begegnung erleben, fühlen Sie sich erfüllt, Sie sind in Bewegung, die Energie, die Sie verspüren, fließt. Ob es eine Besprechung ist, eine Begegnung mit unserem Partner beziehungsweise unserer Partnerin, die Begegnung mit uns selbst, die Begegnung mit unseren Emotionen oder mit einer Situation: Wenn wir im Dialog waren, verlassen wir die Situation anders, als wir sie begonnen haben. Manchmal sind wir erschöpft wie nach einer sportlichen Betätigung, aber wir sind immer gestärkt, wir sind klar. Wir sind ein Stück weitergegangen. Mit einem neuen Gedanken, einem neuen Gefühl, einer neuen Erkenntnis.

Wir brauchen das Interesse, um uns zu öffnen

Im Folgenden möchte ich Ihnen nun die fünf Voraussetzungen vorstellen, die wir brauchen, damit Begegnung überhaupt stattfinden kann: Die fünf Elemente des Dialogs: Interesse, Offenheit, Empathie, Augenhöhe, Respekt und Wertschätzung (Liebe). Wir brauchen das Interesse, um uns zu öffnen, die Öffnung, um zu fühlen und anzunehmen, die Liebe, um offen zu bleiben und zu heilen. Die Augenhöhe hilft uns, einen realistischen Blick und uns selbst nicht zu verlieren, und die Empathie sorgt dafür, dass uns die Augenhöhe nicht abhandenkommt.

Je mehr wir lernen, unseren Gefühlen zu begegnen, umso mehr werden wir erkennen, dass am Ende die Gefühle miteinander verbunden sind und kein Gefühl ohne das andere existiert – auch wenn wir häufig nur eines zurzeit fühlen. Unser innerer Feind ist ein Zusammenspiel aus allen Emotionen, die aus Kränkung, Ohnmacht und Mangel entstanden sind. Um ihn aufzulösen, müssen wir jedem seiner Gesichter im Dialog begegnen, dem Gesicht der Wut, dem Gesicht der Angst, der Trauer, des Schmerzes, dem Gesicht der Sucht. Dazu gehört auch, dass wir uns nicht von einem Gesicht ablenken lassen, um nicht dahinterblicken zu müssen.

Der Text ist ein Auszug dem Buch der Ärztin Mirriam Prieß: „Zeit für einen Spurwechsel. Wie wir aufhören uns selbst zu blockieren und dem Leben eine neue Richtung geben“, Südwest Verlag, 20 Euro

Mirriam Prieß

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