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Die Explosion legte einen Großteil eines Hafens lahm und beschädigte Gebäude in ganz Beirut.

© Hassan Ammar/AP/dpa

Update

Wie kam das Ammoniumnitrat in den Hafen von Beirut?: Experten kritisieren jahrelange Lagerung großer Mengen des explosiven Stoffes

Auslöser für die Katastrophe im Libanon soll eine Chemikalie sein, die vor allem als Düngemittel zum Einsatz kommt. Sie wird aber auch zum Bombenbau genutzt.

Dutzende Tote, tausende Verletzte und verwüstete Gebäude: Die Explosion hat Beirut schwer getroffen. Nach dem ersten Schock beginnt nun die Ursachenforschung. Was war der Auslöser?

Der Libanon geht zum jetzigen Zeitpunkt von einer großen Menge Ammoniumnitrat aus. Laut Ministerpräsident Hassan Diab sollen 2750 Tonnen detoniert sein. Das Material sei seit sechs Jahren ohne Vorsichtsmaßnahmen in einem Lagerhaus untergebracht gewesen. Der Sicherheitschef der Regierung, Abbas Ibrahim, sagte, das Ammoniumnitrat sei seinerzeit beschlagnahmt worden.

Berichten zufolge hatten libanesische Behörden im Jahr 2013 einem Frachtschiff die Weiterfahrt wegen verschiedener Mängel untersagt, das von Georgien ins südafrikanische Mosambik unterwegs war. Der Besatzung gingen Treibstoff und Proviant aus, der Inhaber gab das Schiff dann offenbar auf.

Der Crew wurde nach einem juristischen Streit schließlich die Ausreise genehmigt. Das Schiff blieb zurück mit der gefährlichen Ladung, die in einem Lagerhaus für beschlagnahmte Güter untergebracht wurde.

Präsident Michel Aoun erklärte dazu auf Twitter, es sei inakzeptabel, dass der Stoff sechs Jahre lang ohne Sicherheitsmaßnahmen aufbewahrt worden seien.

„Das ist Fahrlässigkeit": Warum das Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut lagerte

Weshalb es nun zu der gewaltigen Explosion kam, ist jedoch noch unklar. Diab kündigte aber Aufklärung an. „Ich verspreche, dass diese Katastrophe nicht ungestraft bleiben wird und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte er laut der staatlichen libanesischen Nachrichtenagentur NNA in einer Ansprache an die Libanesen.

Am Mittwoch rief das libanesische Kabinett einen Ausnahmezustand in der Hauptstadt aus, der zwei Wochen dauern soll. Damit übernimmt ab jetzt das Militär die Zuständigkeit für die Sicherheit Beiruts. Teil des Kabinettsbeschlusses war zudem: Die Armee soll jeden unter Hausarrest stellen, der seit 2014 an der Verwaltung des Lagerhauses im Hafen beteiligt war.

Hafenbehörden, Zoll- und Sicherheitsdienste waren sich alle bewusst, dass gefährliche Chemikalien im Hafen gelagert wurden. Nun schieben sie sich gegenseitig die Verantwortung für das Unglück zu, wie es aus Sicherheitskreisen heißt. Laut Beiruts Gouverneur Marwan Abbud wurde in einem Bericht von 2014 auch vor einer möglichen Explosion gewarnt.

Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters deuten darauf hin, dass massive Nachlässigkeit und ungeklärte Zuständigkeiten in den Behörden die Explosion erst ermöglicht haben könnten. „Das ist Fahrlässigkeit", sagte ein libanesischer Beamter gegenüber Reuters.

Er hat der Nachrichtenagentur auch gesagt, dass die Lagerung des Ammoniumnitrats Thema in „einigen Komitees“ war und „einigen Richtern“ vorlag – aber „nichts getan“ wurde, um das explosive Material zu entfernen.

Ein Satellitenbild zeigt den Hafen Beiruts nach den Explosionen.
Ein Satellitenbild zeigt den Hafen Beiruts nach den Explosionen.

© Satellite image 2020 Maxar Technologies/via REUTERS

Dem Beamten zufolge wurde das Ammoniumnitrat im Lagerhaus 12 am Hafen Beiruts gelagert. Ein erstes Feuer soll seiner Information nach in dem benachbarten Lagerhaus 9 ausgebrochen sein und auf das Lagerhaus 12 mit dem explosiven Material übergeschwappt sein.

Lösten Reparaturarbeiten in der Lagerhalle die Explosion aus?

Im Juni 2019 leiteten die libanesischen Sicherheitsbehörden eine Untersuchung zur Fracht ein, nachdem wiederholt Informationen über üble Gerüche aus der Lagerhalle eingegangen waren. In ihrem Bericht heißt es, dass die Lagerhalle „gefährliche Materialien enthält, die bewegt werden müssen".

Die Ermittler wiesen auch auf Risse an den Wänden des Lagers hin, die einen Einbruch ermöglichten und empfahlen eine Renovierung des Lagers. Die Hafenverwaltung nahm sich schließlich der Arbeiten an. Die Reparaturarbeiten sollen nach Angaben aus Sicherheitskreisen Auslöser für die Explosionskatastrophe gewesen sein.

Ein Informant, der dem Hafenpersonal in Beirut nahesteht, sagte der Nachrichtenagentur Reuters, Inspektoren hätten das explosive Material vor sechs Wochen erneut untersucht und daraufhin gewarnt, dass es „ganz Beirut in die Luft sprengen“ könnte, wenn es nicht entsorgt werde.

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Auch der Leiter des Beiruter Hafens sowie der Zoll-Chef sagten am Mittwoch lokalen Medien, dass mehrere Schreiben an die Justiz verschickt worden wären, in denen die Entfernung des Ammoniumnitrats gefordert wurde. Es wurde daraufhin aber nichts unternommen. Der Generaldirektor des Hafens, Hassan Koraytem, sagte gegenüber OTV, dass man wusste, wie gefährlich das Material ist. Koraytem zufolge wurde die Lagerung des Stoffes gerichtlich angeordnet – „aber nicht in diesem Umfang“.

„Wir beantragten die Wiederausfuhr des Stoffes, aber das geschah nie. Wir überlassen es den Experten und denen, die die Ursachen dafür ermitteln sollen, warum es nie geschah“, zitiert der libanesische Nachrichtensender LBCI Badri Daher, den Generaldirektor des libanesischen Zolls. Dokumente, die Reuters vorliegen, bestätigen diese Darstellung. Demnach soll der libanesische Zoll in den Jahren 2016 und 2017 bei den Justizbehörden beantragt haben, dass „die zuständige Schifffahrtsbehörde“ das Ammoniumnitrat wiederausführen oder verkaufen solle. Ein weiteres Dokument belegt ähnliche Anfragen aus den Jahren 2014 und 2015.

Laut Riad Kobaisi, einem auf Korruptionsfälle spezialisierten libanesischen Enthüllungsjournalisten, versuchen die Zollbehörden, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Grundsätzlich sei es jedoch verboten, solche Chemikalien ohne Genehmigung überhaupt in den Libanon einzuführen. Für ihn zeige der Fall das Ausmaß der Korruption innerhalb des Zolls, der die Haupt-, aber nicht die ausschließliche Verantwortung für die Tragödie trage.

Was ist Ammoniumnitrat? Und warum ist es so gefährlich?

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Bei diese Chemikalie handelt es sich um ein geruchsloses Salz, das sich aus Ammoniak und Salpetersäure bildet. Es sind farblose Kristalle, die vor allem auf zwei Gebieten Verwendung finden: als Düngemittel und als Sprengstoff.

Ammoniumnitrat wird auch in Sprengstoff verwendet.
Ammoniumnitrat wird auch in Sprengstoff verwendet.

© picture alliance / dpa

Mehr zur Explosion in Beirut:

Einige werden die Substanz schon einmal im Garten genutzt haben, Ammoniumnitrat ist nämlich unter anderem Bestandteil des „Blaukorn“-Düngers. In Verbindung mit Feuchtigkeit löst es sich schnell auf und der Stickstoff kann in den Boden gelangen. Da die Handhabung in Deutschland aber unter das Sprengstoffgesetz fällt, darf es nur in Mischungen verwendet werden - etwa mit Kalk.

Ammoniumnitrat ist außerdem ein starkes Oxidationsmittel. Es gilt als brandfördernd und kann daher zur Herstellung von Sprengstoff eingesetzt werden. Durch eine Initialzündung oder ein starkes Erhitzen über 300 Grad Celsius oxidiert es und entwickelt sich von einem Feststoff in die gasförmigen Produkte Stickstoff, Sauerstoff und Wasserdampf.

Unter normalen Lagerbedingungen und bei mäßigen Temperaturen entzündet sich Ammoniumnitrat aber nur schwer, erläutert die Chemie-Expertin Jimmie Oxley von der Universität in Rhode Island.

Auf Videos der Explosionen in Beirut sei zunächst schwarzer, dann roter Rauch zu sehen. "Ich gehe davon aus, dass es eine kleine Explosion gab, die die Reaktion des Ammoniumnitrats auslöste - ob diese kleine Explosion ein Unfall war oder beabsichtigt, weiß ich nicht", sagt Oxley.

Afghanische Offiziere bewachen sichergestelltes Ammoniumnitrat.
Afghanische Offiziere bewachen sichergestelltes Ammoniumnitrat.

© picture alliance / dpa

Normalerweise wird die Chemikalie unter strengen Bedingungen gelagert: So muss sie etwa von Brennstoffen und Wärmequellen ferngehalten werden.

Trotz der Gefahren ist Ammoniumnitrat laut Oxley in der Landwirtschaft und für Sprengungen in der Bauindustrie unverzichtbar. "Ohne Sprengstoff wäre die moderne Welt nicht möglich, und ohne Ammoniumnitrat-Dünger könnten wir die heutige Bevölkerung nicht ernähren", sagt sie. "Wir brauchen Ammoniumnitrat - wir müssen nur genau darauf achten, was wir damit machen."

Ammoniumnitrat war in der Vergangenheit bereits Auslöser für diverse Katastrophen:

  • 1921 etwa explodierte das Oppauer Ammoniakwerk bei BASF in Ludwigshafen am Rhein, nachdem man ein festgewordenes Gemisch mit Ammoniumnitrat mit Dynamit lockern wollte. 400 Tonnen Düngemittel detonierten. 561 Menschen starben.
  • Zwei weitere Düngemittelfabriken sind seitdem in die Luft geflogen: bei AZF in Toulouse 2001 und bei West Fertilizer in Texas 2013.
  • Die Substanz befand sich auch in einem Gefahrgutlager der chinesischen Hafenstadt Tianjin, wo 2015 nach einer Serie von Explosionen 173 Menschen getötet wurden.
  • 2004 kam es in Nordkorea zur Detonation eines mit Ammoniumnitrat beladenen Zugwaggons. Auch hier gab es etliche Tote und zerstörte Häuser.

Der Stoff ist aber auch von Terroristen mehrfach missbraucht worden. Der amerikanische Rechtsradikale Timothy McVeigh nutzte ihn für seinen Anschlag auf ein Behördengebäude in Oklahoma 1995 mit 168 Toten, der norwegische Rechtsradikale Anders Breivik nutzte ihn 2011 ebenfalls für seinen Anschlag auf ein Regierungsgebäude in Oslo. (mit dpa/AFP)

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