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Kinderzulage. Wer Geschwister hat, ist ein wenig gesünder, empathie- und widerstandsfähiger als Einzelkinder. Allerdings müssen kinderreiche Familien noch immer mit gesellschaftlichen Vorurteilen kämpfen.

© Liderina/Gettyimages/iStockphoto

Familiengesundheit: Geschwister haben ist gesund

Auch wenn Bruder oder Schwester mal nerven – auf Gesundheit und Psyche wirkt die Verwandtschaft positiv. Zudem sind Geschwister eine Stütze in Krisen.

Er ist eine besondere Form von Reichtum, doch auch er ist in Zahlen zu messen: In rund 9000 bundesrepublikanischen Haushalten leben mindestens sieben Kinder. Das sind wenige im Verhältnis zu den 3,4 Millionen Familien, in denen nur ein Kind aufwächst. Doch Geschwister hat die knappe Mehrheit der Kinder in Deutschland: In 3,7 Millionen Haushalten gibt es mindestens zwei Heranwachsende. Und in zwölf Prozent der Haushalte, in denen es überhaupt Minderjährige gibt, leben mindestens drei von ihnen. Und das ist gut so, denn Geschwister zu haben, ist gut für die Gesundheit, Persönlichkeitsentwicklung und Widerstandskraft. Solche Vorteile, aber auch gesellschaftliche Vorurteile gegenüber kinderreichen Familien macht der Kongress für Kinder- und Jugendmedizin zum Thema, der am Mittwoch in Leipzig beginnt.

Fürs Leben prägende Geschwister

Von „Kinderreichtum“ ist hierzulande schon ab einer Grenze von drei Kindern die Rede. Familien dieser Größe sind heute in der Minderheit – eine verschwindende Minderheit sind sie dennoch nicht – vor allem weil zu den „echten“, biologisch kinderreichen Eltern noch die Konstellationen hinzukommen, in denen die Partner Kinder aus früheren Beziehungen in die „Patchworkfamilie“ mitbringen.

Für Kinderärzte sei die Information, ob und wie ihre jungen Patienten zu Hause mit anderen Kindern zusammenleben, durchaus wichtig, sagt der Kinderarzt Gerhard Jorch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uni Magdeburg, Präsident des Kongresses in Leipzig und selbst Vater von neun Kindern aus zwei Ehen: „Das gesamte soziale Umfeld des Kindes prägt – besonders in den ersten Lebensjahren – dauerhaft dessen Persönlichkeitsmerkmale wie Empathie, Autonomie, Bindungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit.“

Geschwister lehren Empathie, Konfliktlösungstrategien und sind eine Stütze in Krisen

Wie sich Geschwister auf die seelische Entwicklung eines Kindes auswirken, untersucht die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin und Pädagogin Inés Bruck vom Nathusius-Institut für Psychologie, Bildung und Beratung in Halle. Ihr Fazit: Die Kinder erfahren dadurch eine „vielseitige Beziehungsbereicherung“. Sie erleben vielfältige Interaktionen auf der „horizontalen“ Beziehungsebene zu annähernd Gleichaltrigen, mit denen sie über Jahre und Jahrzehnte verbunden bleiben, sie schulen ihre Fähigkeit zur Empathie, erlernen aber notgedrungen auch adäquate Strategien zur Konfliktlösung. „Die Koexistenz von positiven und negativen Gefühlen ist ein universelles Merkmal von Geschwisterbeziehungen“, sagt Brock. Geschwisterbeziehungen können zudem eine Stütze sein, wenn Krisen wie Krankheiten oder Trennung der Eltern die Familie erschüttern.

Aus der medizinischen Forschung wiederum ist schon länger bekannt, dass Kinder, die mit älteren Geschwistern aufwachsen, seltener an Allergien leiden, weil ihr Immunsystem von klein auf mit vielfältigen Keimen konfrontiert wird. Erstaunlicher wirkt, was Ernährungswissenschaftler und Mediziner der Universität Michigan vor zwei Jahren als Ergebnis einer Langzeitstudie bekannt gaben: Kinder, die zwei bis fünf Jahre nach ihrer Geburt ein jüngeres Geschwister bekommen, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit fettleibig. Die Forscher führen das in ihrem Beitrag für die Fachzeitschrift „Pediatrics“ darauf zurück, dass in den Familien mehr gespielt und die Freizeit aktiver gestaltet wird. Beides sind natürlich nur statistische Unterschiede, die aber schon bei Familien mit nur zwei Kindern sichtbar werden.

Kinderreiche Familien haben ein Imageproblem

Diese positiven „Nebenwirkungen“ von Geschwistern stehen im Widerspruch zur gesellschaftlichen Wahrnehmung: Kinderreiche Familien haben nach wie vor ein Imageproblem. „Man muss sich erklären“, sagt Jorch. Dazu trägt sicher bei, dass Familien mit vielen Kindern heute in der Mittelschicht eher selten vorkommen. Die Sozialwissenschaftler Bernd Eggen und Martina Rupp fassten in ihrer Studie zu kinderreichen Familien im Jahr 2006 die Charakteristika der sozioökonomischen Gruppen, die Kinderreichtum wahrscheinlich werden lassen, so zusammen: Die erste besteht aus Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen, von denen viele soziale Anerkennung aufgrund fehlender Alternativen über die Elternrolle erzielen. Die zweite, kleinere, besteht aus gut ausgebildeten Menschen aus der „Oberschicht“, die in wirtschaftlich sehr günstigen Verhältnissen leben und den Wert von Kindern sehr hoch einschätzen. Die dritte Gruppe setzt sich aus Menschen mit Migrationshintergrund zusammen. Die Forscher konstatieren hiermit eine u-förmige Kurve beim sozioökonomischen Status.

Als abnorm gilt: Null und ab drei

Was die gesellschaftlichen Leitbilder betrifft, so geraten heute sowohl „egoistische“ Kinderlose als auch „asoziale“ Großfamilien unter Druck. In der „Zeitschrift für Familienforschung“ fordern Sabine Diabaté und Katharina Ruckdeschel vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) neue „Gegen den Strom“-Leitbilder, die die Akzeptanz von „Abweichungen von der Zwei-Kind-Norm“ erhöhen.

Auch Kinderarzt Jorch wirbt dafür, beide Lebensmodelle, Kinderlosigkeit und Kinderreichtum, zu unterstützen. „Es kann sehr verantwortungsvoll sein, auf ein Kind zu verzichten. Und man kann verantwortungsvoll dem Wunsch nachgeben, viele Kinder großzuziehen.“

Beim BiB läuft derzeit eine Studie zu diesen beiden Formen der Abweichung von der Ein-bis-zwei-Kind-Norm. In einem „Working Paper“ haben beteiligte Wissenschaftler 2015 den Forschungsstand zusammengefasst. Demnach erhöhen sechs Faktoren die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Paar ein drittes gemeinsames Kind bekommt: Sie steigt, wenn es in den Herkunftsfamilien viele Kinder gab, wenn die Partner stark familienorientiert und religiös gebunden sind, wenn sie verheiratet sind, die Frau nicht erwerbstätig ist – und nicht zuletzt, wenn die ersten beiden Kinder dasselbe Geschlecht haben und die Eltern sich auch die Erfahrung mit dem anderen Geschlecht wünschen.

Ursache oder Folge? Kinderreichtum geht mit traditioneller Rollenverteilung einher

Ob die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mutter und Vater, die sich in Familien mit vielen Kindern auffallend häufig finden lässt, Ursache oder Folge des Kinderreichtums ist, können die Forscher nicht entscheiden. In der zweiten Befragungswelle des Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ des Deutschen Jugendinstituts hat sich jedenfalls gezeigt, dass die Zufriedenheit mit den Arrangements bei den befragten kinderreichen Familien groß ist.

Jorch, der nach seiner Emeritierung seine pädiatrische Expertise in chinesische Mutter-Kind-Zentren einbringen möchte, die dort nach der Abkehr von der strikten Ein-Kind-Politik an Bedeutung gewonnen haben, möchte mit dem Kongressthema auch hierzulande für familiäre Vielfalt werben: „Es geht mir darum, dass Familien mit vielen Kindern als Teil einer bunten Gesellschaft wahrgenommen werden – wie das inzwischen auch bei Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern möglich ist.“

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