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Mit der Ermordung von Moritz Schlick endete der Wiener Kreis.

© imago stock&people

Heute vor 87 Jahren: Mord an einer Denkweise

In den 1920er und 1930er Jahren tritt der Wiener Kreis für eine radikal wissenschaftliche Philosophie ein. Die Ermordung von Moritz Schlick läutet das Ende der Strömung ein. 

Eine Kolumne von David Will

Woher weiß ich, was wirklich ist? Wie finde ich heraus, woran ich glauben kann? Und wie begründe ich die Kriterien, nach denen ich Dinge in wahr und falsch einsortiere?

Folgt man dem österreichischen Philosophen Moritz Schlick, liegt die Antwort jedenfalls nicht darin, im stillen Kämmerlein über diesen Fragen zu brüten. Anfang des 20. Jahrhunderts begründete er eine neue Art, über Philosophie nachzudenken: Den logischen Empirismus des Wiener Kreises, der die Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst hat – bis er am 22. Juni 1936, heute vor 87 Jahren, mit dem brutalen Mord an Schlick zerbrach. 

Mit den Klassikern seines Fachs konnte Schlick teils wenig anfangen. Schon als Teenager las er die oft hoch abstraken Schriften von Immanuel Kant – und legte sie schließlich erschöpft beiseite.

Damals habe er „das Todesurteil über die theoretische Philosophie ausgesprochen“, schrieb Schlick im Alter von 18 Jahren. Er selbst wollte sich mit „praktischen Weisheiten“ auseinandersetzen. Der Idee einer empirisch fundierten Wahrheitssuche sollte Schlick über Jahre hinweg ein geistiges Zuhause geben. 

Als Professor für Naturphilosophie sammelte er in Wien später Gleichgesinnte um sich.

Die Mitglieder des Wiener Kreises – der Name geht auf eine Art Manifest des Sozialreformers Otto Neurath aus dem Jahr 1929 zurück – teilten eine spezifisch moderne Vorstellung davon, was Philosophie leisten sollte. Tiefsinnige Wahrheiten, die man nur ergrübeln, aber nicht überprüfen konnte, galten ihnen als bedeutungslose Schwärmerei. Philosoph:innen sollten nach dem Vorbild der Naturwissenschaften vorgehen, ihre Gedankengebäude rigoros an Beobachtungen prüfen und streng logisch gestalten. 

Das waren damals explosive Ideen. Das Beharren auf kritischem Denken widersprach dem autoritären Zeitgeist, einige Vertreter des Wiener Kreises setzten sich außerdem aktiv gegen völkische Bewegungen ein. Als die Faschisten die Macht in Österreich übernahmen, beschlossen darum viele von ihnen, das Land zu verlassen. Nachdem einer seiner ehemaligen Studenten den Philosophieprofessor Schlick am 22. Juni 1936 erschossen hatte, weil er dessen radikalen Skeptizismus für seine psychische Verwirrung verantwortlich machte – war das Schicksal des Wiener Kreises besiegelt.

Heute hat der logische Empirismus, den Schlick und seine Zeitgenossen begründeten, einen schweren Stand. Wie Karl Popper aufzeigte, kann man logisch gesehen für nichts den letzten Beweis antreten, sondern lediglich falsche Theorien widerlegen. Wissenschaftstheoretische Debatten hat der Wiener Kreis jedoch nachhaltig geprägt – bis heute. 

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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