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Wolf-Dieter Narr im Jahr 2005 bei einem Vortrag in Berlin.

© imago/Gerhard Leber

Nachruf auf Wolf-Dieter Narr: Immer solidarisch mit Studierenden, Lehrenden, Inhaftierten

Der Berliner Politikwissenschaftler nicht nur als Hochschullehrer überaus engagiert. Nachruf eines Weggefährten von Wolf-Dieter Narr am Otto-Suhr-Institut.

Ach, wir könnten jetzt einen Narr erleben, der stinksauer reagieren würde, wenn er die Nachruf-Rituale entdeckte. Er wollte doch still und ohne jedes Brimborium gehen.

Wer aus Gesprächen mit Wolf-Dieter kam, war irgendwie ein etwas anderer Mensch. Die Studierenden der ersten Semester am Otto-Suhr-Institut (OSI) für Politische Wissenschaft der Freien Universität waren fasziniert, obwohl sie den Reichtum des Universal-Gelehrten noch nicht so ganz erfassen konnten.

Die höheren Semester genossen den Professor für Empirische Theorie der Politik als Hochschullehrer, der fast zu allen gesellschaftlichen Entwicklungen zu einer angemessenen politikwissenschaftlichen Interpretation in der Lage war.

Die Doktoranden bewunderten seine Fähigkeit, sich in das jeweilige Thema der Doktorarbeit zu versetzen und den Himmel der forschenden Möglichkeiten so aufzureißen, dass in der Regel die inspirierenden und motivierenden Potenziale einen Schub erhielten. Seine Habilitanden ermutigte er, die unsinnige Qualifikationshürde auf dem Weg zum Hochschullehrer mit Bravour zu meistern.

Messerscharfe Kritik am Zustand der Politikwissenschaft

Seine Kolleginnen und Kollegen verblüffte Wolf-Dieter regelmäßig mit seinen messerscharfen Kritiken an dem Zustand der Politikwissenschaft und wie wenig diese Disziplin in der Lage war, die gesellschaftlichen Wirklichkeiten theoretisch und empirisch abzubilden. Herrschaftskritik war deshalb seine wissenschaftliche und politische Leitlinie.

Ans OSI war Wolf-Dieter Narr 1971 berufen worden, nach dem Studium unter anderem der Geschichte in Würzburg, Tübingen und Erlangen und der Promotion und Habilitation in Konstanz. „Unser“ OSI mischte er regelmäßig auf, nicht zuletzt als er mit dem Autor dieser Zeilen 1985 auf ein Drittel seiner Stelle verzichtete, um die Etablierung einer Professur für Frauenforschung durchzusetzen.

Wolf-Dieter Narr war immer solidarisch, niemals arrogant oder herrisch. Dem Menschen geschlechterdemokratisch zugewandt, ernstnehmend, ermutigend. Er rettete institutionell das Otto-Suhr-Institut vor dem Auseinanderbrechen, schrieb flammende Texte für ein wirklich politikwissenschaftliches Curriculum. Er vergaß niemals die Adressaten seiner Forschung und Lehre: Die Menschen mit und ohne Bürger- und Menschenrechte, die außerparlamentarischen Bewegungen und Initiativen, denen er sich verpflichtet fühlte.

Und seine Studenten – die betreute er, wie es heute kaum noch ein Hochschullehrer macht. Seminararbeiten wurden detailreich kommentiert, Gutachten zu den Diplomarbeiten gerieten zur wissenschaftlichen Abhandlung. Die studentischen Aktivisten bewunderten ihn zuletzt 2007 in Heiligendamm bei den Protesten gegen das G8-Treffen, als er mit dem Stock demonstrierend durch die Wiesen stapfte. Er organisierte Tribunale gegen Berufsverbote, er machte zusammen mit Klaus Vack den zivilen Ungehorsam zum Markenzeichen der Friedensbewegung. Und er wusste schon früh über die politische Sprengkraft von Migrationsbewegungen.

Er stand vor den Polizeiketten in Wackersdorf und Brockdorf

Er betreute anrührend Menschen im Knast, deren Menschenwürde vollends vor die Hunde zu gehen drohte. Das von ihm und Klaus Vack begründete Komitee für Grundrechte und Demokratie war der außerparlamentarische Ausdruck seiner Profession als Hochschullehrer und Bewegungsunternehmer. Er erfand Demonstrationsbeobachtungen, stand vor den Zäunen des Abschiebeknasts in Worms genauso wie vor den Polizeiketten von Wackersdorf und Brockdorf.

Das Schreiben war seine Leidenschaft. Aber auch das Reden im schwäbelnden Duktus – feurig, unerbittlich und im aufrechten Gang. Als Lehrbuch-Schreiber der Politikwissenschaft, als neben Wilhelm Hennis bestem Kenner Max Webers, als furios streitender Kollege mit Jürgen Habermas, als von Marx und Weber inspirierten Herrschaftskritiker.

Leider hat sein letztes Buch zur „Niemandsherrschaft“ zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Er diagnostizierte das, was man „Blackrock-Kapitalismus“ nennen könnte: 4,3 Billionen Euro Anlagekapital in den 30 DAX-Unternehmen mit fünf bis zehn Prozent Vertretern von New York aus gesteuert, bester Kenner der Branchen, aber auf keiner Aktionärsversammlung sichtbar. Die Gefahr für die soziale Marktwirtschaft und die Demokratie, die von dieser Schattenbank zwischen den Linien ausgeht, hat Narr trefflich auf den Punkt gebracht.

Unvergessen ist auch die Mitherausgeberschaft der Zeitschrift „Leviathan“, die zu seiner Zeit noch sozialwissenschaftlichen Biss hatte.

Wolf-Dieter Narr ist am 12.Oktober in Berlin nach langer schwerer Krankheit gestorben.

Peter Grottian

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