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Das historische Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin vom Bebelplatz aus gesehen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Universität in Zeiten von Corona: Präsenz bleibt die Ausnahme

Der Streit um digitale Lehre am Beispiel der Humboldt-Uni: Verfechter der „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“ auf dem Campus haben schlechte Aussichten.

„Was wir schaffen, ist Wissensvermittlung. Was wir nicht schaffen, ist Universität als Lebensraum.“ So fasst Martin Heger, Dekan der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, die Ausgangslage vor einem weiteren Digitalsemester zusammen. Und plädiert dafür, ab dem Herbst „stark auf Präsenz zu setzen“. Denn die Studierenden bräuchten den Kontakt untereinander ebenso wie mit den Hochschullehrenden.

„Die Interaktion unter den Studierenden und mit den Studierenden bereichert beide Seiten – und das geht zunehmend verloren“, kritisiert Heger. „Ohne die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden gibt es keine Universität.“

Damit bringt Heger ein in den vergangenen Monaten häufig zu hörendes Argument für ein möglichst „normales“ Wintersemester auch unter den Bedingungen der Pandemie auf den Punkt. Am Beispiel der Humboldt-Uni lässt sich jedoch zeigen, an welche Grenzen die Pro-Präsenz-Fraktion der Lehrenden und Studierenden stößt.

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Dem Berliner Jura-Dekan reicht es auch nicht, dass Unileitungen in ihren Pandemiestäben Präsenzangebote für kleinere Seminare, Arbeitsgruppen und Tutorien planen. Vorlesungen sollen demnach weiterhin digital angeboten werden. Das würde die Professorinnen und Professoren aus dem Miteinander ausschließen, warnt Heger.

Deshalb macht er sich gemeinsam mit seiner Fakultät für ein „rollierendes System“ bei den Vorlesungen stark: Statt 450 Studierenden würden nur 150 im Hörsaal unterrichtet, etwa in den wöchentlich drei Einführungsvorlesungen zu Öffentlichem Recht, Strafrecht und Zivilrecht.

Studierende in Kohorten - wie in den Schulen

Die anderen beiden „Kohorten“ à 150 Studierenden könnten dann der digitalen Aufzeichnung der Vorlesung von zu Hause folgen. Das Kohorten-Prinzip – nach dem Vorbild der Schulen – solle auch für Seminare, Tutorien und Fallbesprechungen mit maximal 25 bis 30 Studierenden gelten. Die Gruppen sollen sich außerhalb des Hörsaals oder Seminarraums möglichst nicht begegnen, um mögliche Infektionen einzudämmen.

Ob sich das bei der Unileitung durchsetzen lässt? Was Eva Inés Obergfell, HU-Vizepräsidentin für Lehre und Studium, den gut 30.000 Studierenden der Humboldt-Universität Mitte Juli als Ausblick auf das Wintersemester schrieb, jedenfalls widerspricht Hegers Konzept diametral.

Zwar betont Obergfell, die Uni wünsche sich „grundsätzlich eine Rückkehr zur Präsenzlehre“ – um dann aber ausführlich zu erklären, warum das momentan unmöglich sei.

Martin Heger steht vor dem Hintergrund des historischen Hauptgebäudes der Humboldt-Universität auf einem Balkon.
In Humboldts Namen. Martin Heger, Dekan der Juristischen Fakultät der Humboldt-Uni.

© HU

Solange die Corona-Pandemie anhalte, strebe die HU „aus Rücksicht auf Risikogruppen unter unseren Studierenden und Lehrenden bzw. ihren Angehörigen (…) weiterhin ein Kombi-Semester mit einem hohen Anteil digitaler Lehre an“. Als Grund dafür nennt die Vizepräsidentin auch „eingeschränkte räumliche Ressourcen, die die Einhaltung von Abständen erschweren oder unmöglich machen“.

"Personelle und räumliche Ressourcen überstiegen"

Schon die weiterhin geplanten Präsenzprüfungen und Praxisformate, die an der HU (und anderswo) bereits in der zweiten Hälfte des Sommersemesters wieder möglich waren, würden die „personellen, räumlichen und technischen Ressourcen“ der Uni „gänzlich übersteigen“, dämpft Obergfell Erwartungen, dass ab Herbst in nennenswertem Umfang Präsenzveranstaltungen in kleineren Gruppen durchgeführt werden könnten.

Auch der schon im Juni in einer Petition geäußerten Idee der Juristen, die Infektionsgefahr mit der Bildung von Kohorten in den Griff zu bekommen, erteilt Obergfell, die ebenfalls Jura-Professorin ist, eine Absage. Anders als an den Schulen träfen an den Hochschulen „teilweise extrem große Kohorten aufeinander, die sich zudem ständig in verschiedenen Veranstaltungen mischen“. Das könnte dazu führen, dass in einem regulären Präsenzbetrieb „mehrere Tausend unter Quarantäne gestellt werden müssten“.

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Heger selbst sieht seine Chancen „skeptisch“, spricht von einer „Allianz mit der Politik, an den Unis nichts zu riskieren“. Er würde gerne im Jura-Gebäude am Bebelplatz Räume ausgemessen, versuchsweise mit dem Abstand von eineinhalb Metern bestuhlen und „zertifizieren“ lassen. „Doch dazu brauchen wir das OK von oben.“

Eva Inés Obergfell steht an einem Rednerpult.
Eva Inés Obergfell, Vizepräsidentin für Studium und Lehre der Humboldt-Universität.

© HU Berlin/R. Bergel

Hoffnung könnten Berliner Präsenz-Verfechter in den Corona-Stufenplan für die Hochschulen setzen, den Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach wie berichtet mit Unis und Fachhochschulen aushandelt. Die „Corona-Ampel“ soll signalisieren, wie viel Präsenz die Hochschulen unter welchen Corona-Bedingungen wagen dürfen und wann sie die Unigebäude wieder schließen müssen.

Corona-Ampel? "Gelb ist das, was wir planen"

HU-Vizepräsidentin Eva Inés Obergfell sagt, sie sei gespannt auf die Details der Regelung. „Derzeit gehe ich aber davon aus, dass Gelb exakt das bedeutet, was wir planen. Deshalb würde eine Corona-Ampel unsere Planung nicht ändern.“

Und wo, wenn nicht auf Gelb sollte die Ampel momentan stehen? Rot – ausgelöst von einer zweiten Pandemie-Welle mit stark steigenden Infektionen – würde das sofortige Umschalten auf einen kompletten Digitalbetrieb der Uni bedeuten. „Aber diesmal sind wir mit unseren Erfahrungen viel besser gewappnet als im März“, sagt Obergfell. „Wir haben seitdem viel gelernt.“

Und was würde Grün bedeuten? „Dann würden wir zu dem zurückkehren, was wir seit gut zweihundert Jahren machen – Präsenzlehre“, verspricht Obergfell. Aber dafür müsste die Corona-Pandemie überwunden sein und das halte sie für das kommende Semester für ausgeschlossen. Es bleibe also vorerst bei der Formel „so viel wie möglich in Präsenz, so viel wie nötig digital“.

[Lesen Sie auch unser Interview mit TU-Präsident Christian Thomsen: "Ich kann den Wunsch nach Präsenz nachvollziehen"]

Wenn jedoch aus räumlichen und personellen Gründen so wenig Präsenz möglich ist, wie Obergfell es darstellt: Ist dann tatsächlich das Wesen der Universität in Gefahr? Droht sogar ein Eingriff in die Freiheit der Lehre, wenn Professoren gezwungen sind, ihre Vorlesungen weiterhin online zu halten?

Gemeinschaft geht auch digital

„Wir sind es gewohnt, uns die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden als Präsenzgemeinschaft vorzustellen“, sagt Klaus Wannemacher vom HIS-Institut für Hochschulentwicklung in Hannover. Mit seinem Team hat er von Juni bis August eine qualitative bundesweite Befragung von Studierenden, Lehrenden, Hochschuldidaktikern und Personen aus dem IT-Support zum Digitalsemester durchgeführt. Wannemacher steckt mitten in der Auswertung, kann aber schon erste Tendenzen in der Bewertung ausmachen.

Unsere Berichte zur Corona-Lage an den Hochschulen

„Nahezu alle Studierenden und Lehrenden, die wir wiederholt interviewt haben, beklagen, dass ihnen der wechselseitige persönliche Kontakt fehlt und sie dies als erheblichen Verlust empfinden.“ Das spreche dafür, wieder Begegnungen in den Räumen der Hochschulen zu ermöglichen, sagt Wannemacher.

Doch auch in Online-Formaten sei ein intensiver Austausch möglich, etwa über Software zum gemeinsamen Lernen wie Videokonferenztools, webbasierte Whiteboards und Texteditoren. Damit der bislang eher zähe Dialog auch digital gelingt, müssten sich aber vor allem die Lehrenden mehr als bisher weiterbilden und sich auf neue Tools einlassen.

[Lesen Sie auch unseren großen Überblick auf Tagesspiegel Plus: Was Unis bundesweit zum Wintersemester planen]

Die Bereitschaft dafür sieht der Hochschulforscher durchaus: In der Befragung werde der Stolz auf die eigene „steile Lernkurve“ im Digitalsemester deutlich. „Alle Beteiligten sind davon beeindruckt, wie flexibel alle an den Hochschulen reagiert haben und wie schnell sie sich auf die Ausnahmesituation eingestellt haben.“

Die "Kommode", ein historisches Gebäude, das die Juristische Fakultät der Humboldt-Uni am Bebelplatz beherbergt.
Das Gebäude der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität.

© Kai-Uwe Heinrich

Studierende beklagten zwar didaktische Defizite eines Teils der Professoren, die ihre Lehrveranstaltungen bei laufender Kamera strikt nach Skript durchgezogen haben. Doch die Möglichkeit, aufgezeichnete Online-Vorlesungen bei Verständnisproblemen „zurückzuspulen“, überzeuge auch viele von dem Format, berichtet Wannemacher. Überlegungen, das Studium in der Pandemie-Zeit abzubrechen, seien weniger durch die Form des digitalen Studiums als durch wirtschaftliche Probleme wegen Jobverlusts motiviert.

Einzelne Präsenzseminare für Erstis

Doch was ist mit den Studienanfängern und internationalen Gaststudierenden? Zumindest für sie kündigen Universitäten und Fachhochschulen bundesweit Präsenzveranstaltungen an, damit die Neuen die „echte“ Uni, ihre Mitstudierenden und die Lehrenden persönlich kennenlernen können.

Vizepräsidentin Obergfell stellt zum einen eine „Vernetzungsplattform“ in Aussicht, auf der Erstsemesterstudierende und höhere Semester miteinander in Kontakt treten könnten - digital. Darüber hinaus seien für Studienanfänger „einzelne Präsenzveranstaltungen wie Tutorien oder kleine Seminare“ sowie nur in Präsenz durchführbare Praxisveranstaltungen geplant. Ihnen gebühre Priorität.

Studierende sitzen in einem Hörsaal in den Sitzreihen und auf dem Fußboden vor dem Rednerpult dicht an dicht.
Volles Haus. Eine Erstsemester-Begrüßung im Audimax der Humboldt-Uni wie hier 2012 ist vorerst ausgeschlossen.

© Mike Wolff

Auch anderswo wird auf Raumnot verwiesen

Auch bundesweit beschränken Hochschulen, die ein erneutes Digitalsemester offiziell ausschließen, ihre konkreten Angebote auf die unteren Semester. So erklärt die TU Ilmenau Mitte August, dass sie fürs Wintersemester „weitgehend mit Präsenzlehre plane“.

Einschränkend heißt es aber: „Da die verfügbaren Lehrräume nur eine bestimmte Kapazität haben, werden sie zunächst für Vorlesungen, Übungen und Seminare der ersten bis dritten Fachsemester der Bachelorstudiengänge und des ersten Fachsemesters der Masterstudiengänge bereitgehalten."

Nicht nur an der Humboldt-Universität besteht also nach derzeitigem Stand wenig Aussicht auf eine Rückkehr zur Präsenzlehre für die Mehrheit der Studierenden und Lehrenden.

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