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People light candles at the compound of a memorial complex to Holodomor victims during a ceremony commemorating the famine of 1932-33, in which millions died of hunger, in Kyiv, Ukraine November 25, 2023. The ceremony takes place as Russia's attack on Ukraine continues. REUTERS/Sofiia Gatilova     TPX IMAGES OF THE DAY

© REUTERS/stringer

Gedenken an den Holodomor: Das Trauma der Vorfahren wirkt bis heute nach

Im November erinnern Ukrainer an den Hunger-Genozid von 1932/33. Eine ukrainische Psychologin in Berlin hat untersucht, wie die Enkel und Urenkel mit der Geschichte ihrer Vorfahren umgehen.

Für Ukrainer:innen weltweit ist der November nicht nur aufgrund des Wetters eine dunkle Zeit. Jährlich wird in diesem Monat an die Hungersnot von 1932/33 gedacht, die erst letztes Jahr von Deutschland als Genozid anerkannt wurde.

Vor 90 Jahren hatte das sowjetische Regime unter Stalin mit gezielten politische Maßnahmen eine Hungersnot verursacht, der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Russland wird bis heute der Holodomor als eine Reihe von Missernten abgetan.

Inzwischen sind keine Zeitzeugen des Holodomor mehr am Leben, die ihre Erfahrungen teilen könnten. Dennoch hinterlässt das Trauma tiefe Spuren bei den Enkeln und Urenkeln der Opfer, von denen einige nach Deutschland geflohen sind.

Bei einer Veranstaltung im UA Nest, einem Berliner Co-Working-Space für ukrainische Aktivist:innen, berichteten sie darüber, wie sie mit dem schwierigen Erbe der Hungersnot umgehen. Gala Kachur, eine renommierte ukrainische Psychologin und Traumaforscherin, beleuchtete in ihrem Vortrag „Das Unaussprechliche verschwindet nicht: Wie die rote Hungersnot die Enkel und Urenkel einholt“ die tiefergehenden psychologischen Aspekte.

Zucker, Reinigungsmittel und Wodka

Vor dem Vortrag hatten Teilnehmende die Gelegenheit, sich über ihre Familiengeschichten und den Holodomor auszutauschen. Bis auf einen Mann nahmen nur Frauen teil. Sie erzählten auf Ukrainisch von den Eigenheiten ihrer Großmütter und von einer merkwürdigen Stille bezüglich des Holodomor.

Die Erzählungen ähnelten sich alle: Trockenes Brot muss immer zu Croûtons verarbeitet werden, alles Gemüse muss eingelegt werden, Kartoffeln werden säckeweise im Keller gelagert. Eine Teilnehmerin, die als einzige Russisch spricht, erzählte: „Meine Oma hat mir beigebracht, dass man drei Dinge immer im Haus haben sollte: Zucker, Reinigungsmittel und Wodka.“ Gerade solche Handlungen, die in keinem Verhältnis zur aktuellen Lebenssituation stehen, kämen laut Gala Kachur vom Trauma.

Meine Uroma hat den Holodomor überlebt, ihre kleine Schwester aber nicht. Ihre Schwester nicht gerettet zu haben, sah sie ihr Leben lang als ihre größte Sünde an.

Gala Kachur, ukrainische Psychologin und Traumaforscherin

Menschen in der dritten Generation würden immer noch Symptome von PTBS zeigen, die mit dem Holodomor in Verbindung gebracht werden. Das Trauma der Opfer werde über Kultur und Erziehung übertragen und spiegele sich in Emotionen, Glaubenssätzen und Alltagsstrategien wider, erklärte Kachur. „Sekundäre Traumatisierung“ nenne man diese Ansteckung mit post-traumatischen Verhaltensweisen.

Sie schwiegen aus Scham und Sorge um die Nachkommen

Kachur nutzte Begriffe, die inzwischen allgemein bekannt sind: Stockholm-Syndrom, Gaslighting, Survivor Guilt. „Meine Uroma hat den Holodomor überlebt, ihre kleine Schwester aber nicht. Ihre Schwester nicht gerettet zu haben, sah sie ihr Leben lang als ihre größte Sünde an“, sagte sie.

Meine Großeltern sprachen nicht gerne über den Holodomor. Nach dem Motto: Je weniger du weißt, desto besser schläfst du.

Oksana Shchur, Kuratorin des UA Nest

Auch nach dem Ende der Hungersnot hätten die Überlebenden aus Furcht vor Repressionen und Scham nicht darüber sprechen können, sagte die Psychologin. Oft habe es geheißen: „Wenn du überlebt hast, kannst du gar nicht so ein guter Mensch gewesen sein.“ Denn vielen hätten damals für Essen mit den Staatsmächten kollaboriert und zum Beispiel ihre Nachbarn denunziert.

Dazu käme der Wunsch, die Nachkommen vor der bitteren Geschichte zu schützen. Moderatorin der Veranstaltung und Kuratorin des UA Nest, Oksana Shchur, sagt dazu: „Meine Großeltern sprachen nicht gerne über den Holodomor. Nach dem Motto: Je weniger du weißt, desto besser schläfst du. Aber ich dachte: Ich habe ein Recht, das zu wissen.“

Den Überlebenden, die den Mut hatten, zu sprechen, wurden oft von Zuhörern wie Psychologen oder Historikern nicht geglaubt. „Diese Geschichten zu glauben, war für viele einfach zu hart“, sagte Kachur. Dies habe zu Zweifeln an den eigenen Erinnerungen geführt, was das Schweigen noch verstärkte. Gerade deshalb ist die Anerkennung als Genozid durch die Weltgemeinschaft so wichtig – auch wenn sie für die Opfer zu spät kommt.

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