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Berlin: Martha Helene Röseberg (Geb. 1907)

„Ist dir nicht kalt?“ – „Ja, aber wenn ich’s sage, ändert sich doch nichts.“

Im Garten sitzen, die Augen schließen und die Sonnenglut auf den Lidern spüren. So hatte Martha es gern. Eine stille Genießerin. Bis Wolken aufzogen, der Wind drehte und es kühler wurde. In der Folge setzte in Marthas Umgebung ein reges Treiben ein. Schon räumte jemand den Tisch ab, Taschen füllten sich, Stühle klappten zusammen. Worte wurden gewechselt. Über Wetterprognosen, Klimaschwankungen, Wollpullover.

Martha schaute in die Ferne, regte sich nicht, schwieg.

„Omi, ist dir nicht kalt?“ – „Ja, aber wenn ich’s sage, ändert sich doch nichts.“

Im vergangenen Sommer wurde Martha ins Adlon geladen. Empfang der 100-jährigen Berliner zum 100. Hotelgeburtstag. Sie tanzte einen Walzer, trank Kaffee und beantwortete die Reporterfrage nach dem Rezept fürs Altwerden: „Man muss einsehen, dass sich nichts ändern lässt.“

Dieses stoische Erdulden brachte die Enkelin Ulrike, eine Schauspielerin, also stets Handelnde, beizeiten an den Rand der Verzweiflung. Wie kann man 100 Jahre verbringen, ohne Einfluss zu nehmen auf ihren Verlauf?

Ulrike wollte wissen, wie es unterm Kaiser war, unter Hitler und dann unter Honecker: „Omi, wo fandest du’s denn am besten?“ Martha schwieg. Schweigen ist Gold. Es kam vor, dass sie zum Schweigen den Kopf schüttelte, um anzudeuten: Diese Frage ist sinnlos. Dabei hätte sie allen Grund gehabt zu schimpfen, auf den Hitler, der ihren Mann auf dem Gewissen hatte. 1941 hatten sie geheiratet, 1945 schied sie der Tod. Die Ehejahre waren Kriegsjahre.

Zum Hadern blieb damals keine Zeit. Martha hatte Weißnäherin gelernt, aber wer sollte in Trümmerdeutschland spitzenverzierte Tischwäsche kaufen? Sie lernte Krankenschwester, um Geld zu verdienen für sich und ihren Sohn, den Ulrich. Der machte seine Sache gut, studierte in Moskau und wurde als Physiker in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Martha konnte sehr stolz sein auf ihn, aber meistens nur von Ferne. Vom vielen Alleinsein wurde sie erlöst, als Ulrich eine Familie gründete.

Martha half im Haushalt, stickte und strickte für die Enkelinnen. Jede bekam als Aussteuer einen Koffer mit Bettwäsche und etwas Meißener Porzellan. Enkelin Ulrike überlegte lange, ob sie ihrer Omi erzählen sollte, dass sie mit einer Frau zusammenlebt. Als sie sich endlich zum Outing durchgerungen hatte, vorsichtig nach Worten tastend, da sagte Martha nur: „Wie schön.“

Ab sofort bekam auch Ulrikes Partnerin regelmäßig Sendungen selbstgestrickter Strumpfhosen und bestickter Taschentücher. Sowas braucht schließlich jeder. Nie vergaß Martha, Grüße ausrichten zu lassen.

Ihr etwas zu schenken, war fast unmöglich. Bücher gingen nicht wegen der schlechten Augen. Musik schaltete Martha immer aus. Vielleicht ein Hörbuch? Zu modern. Ulrike erfand schließlich die „Lichterfahrt“, eine Autofahrt durch das weihnachtlich erleuchtete Berlin. Martha nahm Freundinnen mit, die sich im stillen Genießen schon bewährt hatten.

Dann hatte jemand die Idee mit dem sprechenden Wecker. Den hat Martha sofort adoptiert. Der Wecker sagte auf Knopfdruck: „Guten Tag. Es ist jetzt 4 Uhr 5“, und Martha wusste, dass sie noch etwas im Bett bleiben sollte. Bevor sie den Wecker hatte, zog sie sich manchmal nachts an und wartete sehr lange aufs Hellwerden. Da lebte sie schon im Heim.

Ihr Tag begann pünktlich um sechs. Sie zog sich an und wartete auf das Frühstück. Ihr Tag endete am Abend um sieben. Als Ulrike anfing, in einer Fernsehserie mitzuspielen, die jeden Abend um fünf nach sieben begann, bat sie Martha, doch mal eine halbe Stunde länger aufzubleiben. Um das Durchbrechen der Gewohnheit zu erleichtern, bekam sie einen neuen Fernseher mit großem Bildschirm. Eine Folge hielt Martha durch, dann ging sie wieder Punkt sieben ins Bett.

Mit 98 Jahren setzten die Ärzte einen Schrittmacher neben Marthas Herz. Damit konnte sie wieder flink laufen und tanzen, wenn ein Partner zur Hand war. Zwei Wochen nach dem Walzer im Adlon endete ihr Leben durch einen Schlaganfall. Unabänderlich. Thomas Loy

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