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Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, 69.

© IMAGO/Panama Pictures/Christoph Hardt

„Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ von Herta Müller: Sprache kann Heimat sein - wenn die Heimat es zulässt

Die Gesetze der Fiktion: Das neue Buch der Literaturnobelpreisträgerin versammelt Prosa, Essays und Reden von ihr aus dem vergangenen Jahrzehnt.

Als Herta Müller sich kurz nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2009 mit dem Schriftsteller Michael Lentz in Leipzig über ihr Schreiben unterhielt, sagte sie, dass es in den Verhören, denen sie unterzogen wurde, nie um Wörter gegangen sei, um eine „Schreibsprache“, sondern wegen der großen Angst um das Retten der Haut, um eine „Schutzsprache“: „Das Leben selbst braucht keine fiktionale Sprache, sondern die praktische Mitteilung. Die soll nicht schön sein, sondern helfen. In die Gesetze der Fiktion gerät man erst im Nachhinein, weil das Erlebte im Kopf gespeichert ist und wuselt.“

Aus diesem Wuseln im Kopf hat Herta Müller großartige Literatur geformt; eine Literatur, die häufig zurückkommt auf diese Verhörsituationen, erst in Rumänien durch die Securitate, dann in den ersten anderthalb Jahren nach ihrer Ankunft 1987 in Deutschland.

Müllers Schreiben kreist um ein Leben in Unfreiheit, in einer Diktatur, und um die Sehnsucht nach Freiheit, gerade wenn es keinen Ausweg zu geben scheint und die Mechanismen der Unterdrückung erst lehren, was Freiheit und Menschenwürde bedeuten.

„So fing ich an zu schreiben“, hat sie vergangenes Jahr im Jüdischen Museum gesagt, in einer Dankesrede für den Preis für Toleranz und Menschenrechte. „Die Wörter halfen mir, erlaubten, ja benötigten sogar das Surreale, das diffus daherkam, aber genau das politische Gefüge der Tage berührte.“

Sie wusste, dass sie eine Nachricht aß

Die Rede findet sich in dem neuen Buch von Herta Müller, das ihr Verlag dieser Tage aus Anlass ihres bevorstehenden 70. Geburtstags am 17. August veröffentlicht. Es enthält Reden, Essays und Prosa aus dem vergangenen Jahrzehnt, einem Jahrzehnt, in dem Müller sich mit Romanen und Erzählungen zurückgehalten und auf Collagen und andere kleine Formen konzentriert hat.

„Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“, wie der Band heißt, präsentiert Herta Müller in ihrer poetischen Gänze, um nicht zu sagen: Vollkommenheit, angefangen mit einem Essay über die Würde des Menschen und was Würde eigentlich bedeutet, bis hin zu dem als „Monolog“ gekennzeichneten Titelstück am Ende. Darin überwiegt eben jenes Surreale, Sätze, in denen das Diffuse, Unvorhersehbare, scheinbar nicht miteinander in Einklang zu Bringende und das Präzise ineinander übergehen. „Die Mitreisende kochte die Kartoffelhälften und aß sie. Sie wusste, dass sie eine Nachricht aß, einen Namen, ein Dorf, ein Haus.“

Herta Müller kommt in diesen Reden und Aufsätzen immer wieder auf ihre Herkunft zurück: auf das Dorf, in dem sie aufwuchs; auf den Vater, der bei der SS war; auf ihre Zeit in Temesvar, wo sie in einer Fabrik als Übersetzerin und später als Lehrerin arbeitete; auf ihre Ankunft in Deutschland, wo sie in der ersten Zeit im Grunde von denselben Männern wie in ihrer Heimat verhört wurde, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Man verdächtigte sie, eine Agentin der Securitate zu sein und keine Verfolgte.

Das Taschentuch, auf das sie sich im Treppenhaus der Maschinenbaufabrik setzte, nachdem sie sich geweigert hatte, als Spitzel für die Securitate tätig zu werden, und daraufhin nicht mehr an ihren Arbeitsplatz durfte; die Zahnbürste, die sie immer bei sich hatte und ein sprichwörtlich unbeschreibliches Glück bedeutete (bis sie sie verlor, als ihre Handtasche geklaut wurde); das Fuchsfell vor ihrer Haustür, von dem der rumänische Geheimdienst nach und nach alle Pfoten und den Schwanz abschnitt: Man kennt diese Dinge aus den Romanen von Müller, aus „Herztier“ oder „Der Fuchs war damals schon der Jäger“.

Alle diese Dinge waren wichtig für Müller. Sie gingen ihr nicht aus dem Kopf und wurden von ihr obsessiv betrachtet: „Die Obsessionen, mit der Umgebung fertig zu werden, machten mich lebendig“, heißt es in dem in diesem Band erstmals abgedruckten Prosatext „Das chinesische Glasauge“. Hier geht es um drei Glasbehälter in der Auslage einer Konditorei, die mit Bonbons, Rasierklingen und Streichhölzern gefüllt waren, und um die einer Apotheke, in der es keine Medikamente gab, sondern nur Glasaugen, von denen eins Müller schließlich um den Hals trug. Dieses eine Glasauge erzählt Müller im Nachhinein eine Geschichte, so wie es dem Arzt, der sie nicht behandeln will, eine andere erzählt. Und irgendwo dazwischen steckt der Raum, der Freiheit und Würde bedeutet.

Dazu kommen die (gleichfalls unterdrückten, diktaturgeschädigten) Brüder im Geiste: Victor Klemperer, dessen „LTI - Lingua Tertii Imperii“ Müller liest, Liao Yiwu, dessen Beobachtungsgabe sie bewundert, oder Georges-Arthur Goldschmidt, dessen Bücher sie feiert. Sprache ist Heimat, das ist für die Literaturnobelpreisträgerin eine Binsenweisheit. Für sie gilt diese nur, „wenn man der Heimat nicht im Weg steht, wenn sie einen leben lässt.“ Wenn dem nicht so ist, wie es bei ihr lange der Fall war, muss die Sprache sich neue Wege suchen – und erst dann wird sie eine andere, eine besondere, wie in jedem Buch von Herta Müller.

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