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Hat auch ein Faible für persische und indische Musik. Camille Émaille.

© Foto: Chloé Milos Azzopardi

Jazzfest Berlin 2022: „Alles nährt die Musik“

Die französische Perkussionistin Camille Émaille, die jetzt beim Berliner Jazzfest auftritt, über Klang, Moment und Energie in der freien Improvisation

Von Gregor Dotzauer

Camille Émaille, das Berliner Jazzfest, bei dem Sie solo und mit Ihrem Perkussionstrio OTTO auftreten, präsentiert dieses Jahr nicht weniger als sieben Schlagzeugerinnen. Wie Sofia Borges oder Mariá Portugal gehören Sie zu den mehr oder weniger frei Improvisierenden. Sind trommelnde Frauen die letzte Domäne, die es von den Männern noch zu erobern gilt?

Musikmachen hat für mich nichts mit der Eroberung einer Domäne zu tun. Ich spiele, wie ich spiele, und das nicht, um irgendeinen Raum einzunehmen. Ich spiele, was mich musikalisch, emotional und menschlich interessiert, und wenn es anderen gefällt, umso besser. Natürlich spielen das Geschlecht, die soziale und geografische Herkunft und alles sonst, was ein Lebewesen ausmacht, eine Rolle. Aber darüber können Soziologen besser sprechen.

Es gibt mehrere Traditionslinien, in die sich Perkussionistinnen einordnen können. Sie reichen vom Primitivismus einer Rockmusikerin wie Maureen Tucker von Velvet Underground bis zum Jazz-Alleskönnertum von Terri Lyne Carrington. In welcher Genealogie sehen Sie sich selbst?

Ich sehe mich in gar keiner Genealogie, und ich bekenne mich zu keiner Stilrichtung. Wenn das andere fachkundig analysieren, habe ich nichts dagegen. Doch weder Männer noch Frauen sollten sich in eine Tradition einschreiben, schon gar nicht in eine einzige. Jeder kann, keiner muss. Ich denke über meine Musik eher in den Begriffen des Moments nach, der Präsenz, des Klangs und seiner Beziehungen, nicht in Begriffen von Primitivismus oder anderen Qualifikationen.

Zwei Ihrer Lehrer sind der britische Gitarrenexperimentator Fred Frith und der deutsche Perkussionist Christian Dierstein. Was haben Sie von ihnen gelernt?

Ich hatte das Glück, in meinem Leben vielen unglaubliche Menschen zu begegnen. Einige davon waren Musiker und meine Lehrer, viele etwas ganz anderes. Bei allen haben mich bestimmte Aspekte ihres Tuns angesprochen, andere überhaupt nicht. Von daher lerne ich jeden Tag ein bisschen mehr darüber, was ich eigentlich will und was ich nicht will. Ob ich mich etwas verwandt fühle oder es ablehne: Es ist alles ein Ganzes.

Mussten Sie sich nicht erst einmal von den Idiomen dieser starken Persönlichkeiten befreien?

Nein. Frith und Dierstein unterscheiden sich musikalisch sehr stark von mir, und ich haben nie versucht, ihnen zu entsprechen. Ich habe mich von ihnen auch nie eingeengt gefühlt. Beide sind Lehrer, die alles andere im Sinn haben, als Schülern ihre Eigenheiten aufzuzwingen.

Spielen Sie mit dem Free-Jazz-Urgestein Peter Brötzmann, dem sie viel Aufmerksamkeit verdanken, anders als mit dem Komponisten Heiner Goebbels, in dessen Band The Mayfield sie trommeln?

Nur in dem Maß, in dem ich auch mit Pol Small und Gabriel Valtchev, den beiden anderen Perkussionisten von OTTO, anders spiele. Oder mit Jean-Luc Guionnet und Julien Desailly im Trio Gésir. Ich bleibe immer ich selbst. Mit Brötzmann habe ich auch nicht im Duo, sondern im Trio mit der Steel-Gitarristin Heather Leigh gespielt. Und mit Goebbels habe ich vor allem an seinem Musiktheaterstück „Everything That Happened and Would Happen“ gearbeitet. Der Zustand, in dem ich mich beim Spielen befinde, hat nichts mit den jeweiligen Musikern zu tun.

Wie hat sich die von außen so stark den eigenen Ritualen verhaftet scheinende Improvisationsmusik in den letzten zwei, drei Jahrzehnten verändert?

Manchmal sehe ich auf Festivals Dinge, die als improvisierte Musik gelten, doch meilenweit von meiner Herangehensweise entfernt sind. Dinge, die immer mehr geschrieben, ästhetisiert und etwa mit starken Funk-Konnotationen versetzt sind. Zugleich ist die alte Schule, bei der jeder Improvisator zum ersten Mal mit einem unbekannten Musiker spielt, auch nicht nach meinem Geschmack. Ich ziehe es vor, mit den Musikern, mit denen ich übe und spiele, in die Tiefe zu gehen und gemeinsam zu graben. Vielleicht hat sich die improvisierte Musik in dieser Hinsicht seit der Zeit des Gitarristen Derek Bailey etwas verändert.

Welche Beziehung haben Sie zur komponierten Neuen Musik, zu der es von der Seite der Improvisation immer mehr Überschneidungen gibt?

Ich spiele sie nur noch selten. Denn wenn man auch nur einen Fuß aus der Neuen Musik heraus tut, ist es schwierig, wieder in ihre Welt einzutauchen. Aber ich habe immer gerne die Stücke von Iannis Xenakis und Giacinto Scelsi gespielt. Sie haben mir viel beigebracht: Xenakis einiges über die Beziehung zum Klang und zu rhythmischen Konstruktionen, und Scelsi etwas über die Klangmasse und die Tiefe der Zeit,

Sie haben ein wunderbares Soloalbum mit dem Titel „Bekkos“ aufgenommen. Es versammelt die Höhepunkte ausgedehnter Improvisationen. Fühlen Sie sich mit dieser Ausschnitthaftigkeit wohler oder mit der Ausgedehntheit von Live-Improvisationen, die auch Leerlauf mit sich bringen?

Ich fühle mich weder mit dem einen noch dem anderen durch und durch wohl. Oft sind meine Live-Improvisationen ein einziger Block, denn es kostet Zeit und Energie, in den Klang eines Konzerts ein- und daraus wieder aufzutauchen. Live-Set und Album sind aber zwei sehr unterschiedliche Dinge, an die ich nicht mit der gleichen Einstellung herangehe.

Neben der Lust am reinen Klang gibt es in Ihrer Musik auch rhythmische Muster, die sich aber nicht metrisch exakt bestimmten lassen. Wie würden Sie die Struktur dieser Patterns beschreiben?

Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen. Wir reduzieren die Natur der Dinge, wenn wir alles auf Strukturen und mathematische Ideen beziehen. Diese Muster entstehen aus einem inneren Fluss, in den ich einzutauchen versuche.

Was hält Ihre Musik dann so kraftvoll zusammen: eine Art Atem, ein Puls?

Vielleicht eine besondere energetische Intensität?

Was tun Sie, um sich in Ihrem Spiel selbst noch zu überraschen?

Ich will gar nicht ständig überrascht werden. Ich greife sogar gerne auf die gleichen Dinge zurück, deshalb mag ich es auch, immer wieder mit denselben Musikern zu arbeiten. Alles ist lebendig und in ständiger Bewegung: die Menschen, die Geräusche. Alles nährt die Musik, nicht nur ein bestimmtes Vokabular. Es gibt keinen Grund, das Neue zu suchen, zumindest ist es eine vergebliche Absicht.

Was machen Sie, wenn Sie der Musik einmal überdrüssig sind?

Ich werde der Musik nicht so schnell überdrüssig. Ich denke oft an andere Dinge, und viele andere Dinge leben in mir. Ich lebe in einem winzigen Dorf in den Bergen, unter Jägern und mit meinem Hund. Ich habe dort vieles zu tun, was mich zugleich aus der Musik herausholt und sie stärkt.

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