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Die neuen Betreiber der Stachelschweine. Frank Lüdecke mit seiner Frau und Managerin Caroline Lüdecke (zweite v. li.) und das aktuelle Ensemble Steven Klopp, Melissa Anna Schmidt und Julian Trostorf (von links nach rechts).

© Thilo Rückeis

Jubiläumsprogramm 70 Jahre Stachelschweine: Klimawandel, Rechtsruck und Weltverschwörung

Viel Tunnel am Ende des Lichts - eine Kritik zur Premiere des neuen Stücks von Frank Lüdecke in den Stachelschweinen.

Das Europa-Center ist eine kleine Zeitreise. Gebaut in den Sechzigerjahren, als man noch ohne schlechtes Gewissen konsumieren konnte, fühlt es sich heute, neben all den Hochglanz-Malls, ein wenig veraltet und antiquiert an. Schon fast vergessen, in den Kellern des Konsum-Tempels hält sich wacker das Kabarett-Theater „Die Stachelschweine“. Seit einigen Wochen hat der Kabarettist Frank Lüdecke die Leitung übernommen und mit „Viel Tunnel am Ende des Lichts“ sein Debütstück für sein neues Wohnzimmer geschrieben. Das Theater wurde renoviert und umgebaut. Lounge-Atmosphäre, gedämmtes Licht und dazu passende Musik erwarten einen. Der Saal ist nicht 4G-fähig – die schlechten Nachrichten aus Brandenburg und Sachsen müssen erstmal draußen bleiben.

Bereits in der ersten Szene wird die vierte Wand eingerissen. Die drei Darsteller kommen streitend auf die Bühne und bemängeln, dass man bei einer Karte für 30 Euro wohl ein Bühnenbild hätte erwarten können. „Was ist das denn überhaupt für ein Anfang?“, fragt Melissa Anna Schmidt.

Das fragt man sich in der Tat. Um wieder auf den richtigen Pfad zu kommen, wird die Eingangsszene im Brechtschen Verfremdungsstil wiederholt – obwohl diese Verfremdung bereits stattgefunden hat.

So treffen eine depressive Pädagogin, ein erfolgloser Sülze-Fabrikant und ein radikalisierter Klimaforscher zufällig auf dem Dach des Europa-Centers zusammen. Eigentlich hatten die ersten beiden gehofft, hier ganz ungestört ihrem Leben ein Ende setzen zu können. Der Klimaforscher wiederum plant, mit einer Bombe die Menschheit wachrütteln zu können und zu einem Umdenken zu bewegen. Aus den Plänen wird leider nichts, sie geraten miteinander in Streit und werden von einer riesigen, äußerst seltenen Ente und später von der Polizei bei ihren Vorhaben gehindert. Es sind die drei Pole unserer Gesellschaft, die hier zusammenkommen. Der erfolglose Unternehmer, der mit der sich verändernden Weltlage nicht mehr zurecht findet und konservative Werte zurückfordert. Der linke, jugendliche Visionär, der mit Terrorismus hofft, noch einen Umsturz herbeiführen zu können. Und die bürgerliche, gebildete Mittelschicht, die überhaupt nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Die depressive Pädagogin hatte erst letztens ihren Job als Lehrerin verloren, als sie beim Klassenabend betrunken und entsprechend ehrlich ihre Frustration zur Schau gestellt hat.

Die Dialoge sitzen und haben Biss

Für zwei Stunden führen sie das Publikum durch die aktuellen Problemfelder unserer Gesellschaft. Klimawandel, Rechtsruck, Weltverschwörung. Die Themenpalette ist breit und bunt, das Publikum leider nicht ganz so. „Vegane Wurst ist keine Wurst“, brüllt der Sülzenfabrikant in den halbleeren Saal. Das weißhaarige Publikum spendet zustimmenden Applaus. Der Gag, als solcher von Lüdecke nicht beabsichtigt, sagt hier mehr über unsere Gesellschaft aus, als es den meisten der hier Anwesenden wohl bewusst ist. Die drei Darsteller geben eine gute Vorstellung ab. Wie für Kabarett üblich müssen sie sich in mehreren Disziplinen behaupten.

Da geht es lang. Ein Hauch der Sechziger im Europa Center,
Da geht es lang. Ein Hauch der Sechziger im Europa Center,

© Thilo Rückeis

Die Darsteller wechseln vom Klavier zum Cajon und wieder zum Gesang zurück. Höhepunkt ist ein Liebeslied an die GroKo mit ihren Protagonisten. Die Dialoge von Lüdecke sitzen und haben Biss, die Chemie zwischen Julian Trostorf, Melissa Anna Schmidt und Steven Klopp stimmt ebenfalls. Dennoch kommt das Stück bis zum Ende nicht wirklich in Fahrt. Die Themen, die behandelt werden, sind aktueller und brisanter denn je, doch im Saal hat sich schnell eine entspannte Sonntagnachmittag Stimmung breit gemacht. Man lässt sich unterhalten und Witze über Seehofer, Merkel und Maas ernten die erwartbaren Lacher.

Die Kritik von Lüdecke greift aber tiefer. Er lässt eine Fridays-for-Future-Demo mit zwei Teilnehmern in Cottbus auftreten und verknüpft dabei geschickt zwei Themen miteinander: der Osten, der schon so abgehängt wurde, dass selbst für Klimaprotest keine Energie mehr da ist.
Vor der Pause wird es nochmal turbulent zwischen den Darstellern. Die Distanz zum Publikum wieder aufgebrochen, Brecht hin oder her. „Leck mich doch am Arsch“, brüllt Melissa Anna Schmidt, bevor sie den Saal verlässt. „Ui, das sagt man aber nicht“, hört man aus der ersten Reihe. Hat sie aber trotzdem.

- „Viel Tunnel am Ende des Lichts“ feierte am 31. August diesen Jahres Premiere und läuft noch bis zum Dezember in den Stachelschweinen im Europa-Center. Frank Lüdecke schreibt al Freier Mitarbeiter wöchentlich die Kolumne „Auslaufen mit Lüdecke" im Sportteil des Tagesspiegel.

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