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Kultur: Opernmärchen für die Großstadt

Zum 100. Geburtstag des Berliner Komponisten Boris Blacher: ein Besuch bei der Pianistin Gerty Blacher-Herzog

Es gab eine Stadt im Hamlet-Fieber. Eine Erregung, die sich einem Tanzdrama von Tatjana Gsovsky und Boris Blacher verdankte. Ballettomanen berichten davon, dass die Berliner sich nicht einkriegen wollten vor Begeisterung. Die Gegenmeinung, die 1953 im Tagesspiegel zu lesen war, lautete: „Hamlet tanzend zu sehen, ist etwas Erschreckendes.“ Aber gesprochen wurde überall von dem Stück, das vom Titania-Palast in die Städtische Oper wanderte. Es führte das klassische Ballett in neue Sphären. „Auf Spitze oder auch ohne“ liebte die Zauberchoreografin den „Konflikttanz“ und hatte ein Zeichen spezifisch deutscher Ballettgeschichte gesetzt, die sie in idealer Partnerschaft mit Blacher fortschrieb. Gert Reinholm hieß der Dänenprinz, und man nannte ihn einen Jean Marais oder jungen Löwen des expressiven Tanzes. Das Gedächtnis dafür, wie oft er die Rolle getanzt hat, ist ihm abhanden gekommen, weil er mit ihr identisch war und geblieben ist bis auf den heutigen Tag, was immer er sonst in seinem Fach unternommen hat.

Boris Blacher, der Schöpfer der Partitur, steht 1953 im Zenit seines Ruhms: Direktor der Hochschule für Musik Berlin (bis 1970), ist er mit zirka 100 Aufführungen per Saison einer der meistgespielten lebenden Komponisten der E-Musik. Väterlicherseits stammt er aus dem Baltikum, aber geboren ist er 1903 in China, am 6. bzw. 19. Januar (europäischer Zeitrechnung). Sohn eines Bankdirektors, wird Blacher schon in früher Jugend zum Kosmopoliten, da Umzüge und Schulwechsel an der Tagesordnung sind. 1922 erreicht er Berlin. Dies und vieles mehr wird für Fährtensucher und Forscher in einem Buch von Stephan Mösch subsumiert: „Der gebrauchte Text/ Studien zu den Libretti Boris Blachers“ (Verlag J.B. Metzler, 2002). Darin ist die Zeittafel mit typischen Zitaten angereichert wie jenem über den 14-jährigen Hilfsbeleuchter in Irkutsk: „Dass ich die Scheinwerfer hin- und herschob, das war meine erste Begegnung mit der Opernwelt.“

Blachers Heirat mit Gerty Herzog, die 1938 von der Berliner Musikhochschule als „Halbjüdin“ nicht angenommen wurde, erfolgt 1945, „als es dann möglich war“. Da hat die junge Pianistin es mit Privatunterricht (u.a. bei Wladimir von Horbowski und Siegfried Borris) schon so weit gebracht, dass ein Studium sich erübrigt. Ihre internationale Karriere beginnt, und Blacher muss „zwischendurch immer Klavierstücke schreiben“, darunter Clementi-Variationen sowie ein Erstes und (in variablen Metren, also reihenmäßig orientierten Taktwechseln) das Zweite Klavierkonzert.

Im Gespräch gedenkt Gerty Herzog heute gern der Arbeit mit Hans Rosbaud an diesem Konzert. Ihre Toleranz ist die des Hauses Blacher und von der Art, nicht „glauben“ zu können, dass es die jüngst aufgedeckten Verstrickungen des Dirigenten in die Politik der Nazis tatsächlich gegeben hat. Blachers Musik zu spielen, ist der Virtuosin an seiner Seite immer „ganz leicht“ gefallen. Seine oft gespriesene Großzügigkeit habe ihr die Ausführung anheimgestellt, und daher befinden sich in den „edlen Manuskripten“, die die Akademie der Künste von ihrem ehemaligen Präsidenten (1968–71) aufbewahrt, zahlreiche Herzog-Fingersätze in Bleistift. 1937 gelingt Blacher mit der „Concertanten Musik“ der Durchbruch, ab 1947 werden die Paganini-Variationen zur Standardliteratur für Orchester. Im Repertoire geblieben ist seine „Auftragskomposition“ für die 12 Cellisten der Philharmoniker.

Der Oper aber gibt er wie kaum ein zweiter deutscher Komponist der Nachkriegszeit Impulse, einer Oper ohne das tiefschürfende Pathos. Über die „Meistersinger“ befragt, meint er, dass er gegen sie den gleichen Einwand habe wie gegen Hindemiths „Mathis der Maler“: „Ich finde nämlich, in beiden Werken wirkt die Ambition, die Kunst zu wichtig zu nehmen, einfach störend“ (Tagesspiegel 1947). Mit der „Abstrakten Oper Nr. 1“ auf einen Chiffren- und Silbentext sorgt er für einen Theaterskandal. An der Städtischen/Deutschen Oper Berlin werden sein Haupterfolg, das von Walzer, Polka, Marsch und Galopp betriebene „Preußische Märchen“, die jüdische Komödie „200 000 Taler“ und „Rosamunde Floris“ uraufgeführt. Künstlerisch kommt Blacher von Strawinsky, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verbindet. Vor allem im rhythmischen Element findet er den Weg seines Personalstils, der von Aussparung bis zur Askese, Eleganz und unerhörter Klarheit geprägt ist. Warum ist diese Repräsentationsfigur der Stadt, der liebenswerte Souverän, nach seinem Tod 1975 mit seinem Werk in Vergessenheit geraten?

Ob die Zeit seiner Zeitstücke wiederkommt? Die Ballette als Gesamtkunstwerke sind verloren, weil es kaum Fixierungen von Gsovskys Choreografien gibt. Aber eine Epoche leuchtet auf, wenn Gerty Blacher-Herzog auf ihre Künstlerkinder zu sprechen kommt, neben dem Geiger Kolja auf die Schauspielerin Tatjana Blacher: „Meine Tatjana ist Tatjanas Patenkind!“ Eine Künstlerfreundschaft, die fortdauert. In der Wohnung an der Schlüterstraße werden mir schön geschriebene Neujahrswünsche von Gert Reinholm gezeigt, dem Dänenprinzen.

„Rückblick in die Zukunft“, einen Fernsehfilm von Hubert Ortkemper über Boris Blacher, strahlt der SFB am 14.1. um 22 Uhr15 aus.

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