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© Kai-Uwe Heinrich

Tag der Einheit: Jens Reich: Wir Ostler waren nicht nur Untertanen

Wo Wehler irrt: Die DDR ist mehr als eine „Fußnote der Geschichte“.

Hans-Ulrich Wehlers neues Buch trägt den Titel „Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949–1990“. Das hätte ein spannendes Abschlusskapitel seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ werden können: die künstliche Schaffung der beiden Staatsgebilde. In allen Phasen ihrer Existenz ist die Auslöschung des jeweils anderen Staates ein Hauptziel politischen Handelns gewesen. Ohne diese permanent im Hintergrund wirksame Wechselwirkung sind die gesellschaftliche Entwicklung und das reale sozialpolitische und machtpolitische Handeln beider Protagonisten nicht zu verstehen, schon gar nicht ihre durchgehaltene Bindung und Kooperation.

Dieses Konzept einer das gesamte Deutschland in seiner historischen Einheit abschließend darstellenden Gesellschaftsgeschichte hat Wehler weit verfehlt – nein: nicht verfehlt – er hat es verschmäht. Gleich im Vorwort wird die Ablehnung einer integralen Darstellung benannt: Die Bundesrepublik verkörpere von Anfang an einen für sich allein lebens- und zukunftsfähigen Staat, so heißt es, während die kurzlebige Existenz der DDR dagegen in jeder Hinsicht in eine Sackgasse geführt habe. Daher könne ihr keine gleichwertige Behandlung eingeräumt werden. Was bei dieser Beschränkung herauskommt, ist ein hinkendes Zweibein: einerseits eine Gesellschaftsgeschichte des westlichen Staates, die bei aller Systematisierung und allem Detail ein Rumpfgebilde mit Schlagseite bleibt, weil ihr der Bezug auf den Osten Deutschlands und Europas fehlt. Das andere, verkrüppelte, Bein ist eine jedem einzelnen Kapitel angehängte Abrechnung mit dem östlichen Teilstaat Deutschlands in einem eifernden Duktus, der an grobschlächtiges Agitprop-Stakkato erinnert und seltsam mit der trockenen Faktenstatistik kontrastiert.

Der Hauptirrtum Wehlers bei dieser Analyse der DDR ist, dass er das System ohne genaue Differenzierung als links-totalitär einstuft. Wenn ein solches System mehr als eine politische Diktatur, nämlich als totalitär gelten soll, dann gehört dazu gerade für eine Sozialgeschichte als Kennzeichen unabdingbar eine gelingende permanente und gewaltsam durchgesetzte Mobilisierungskampagne der Bevölkerung, eine Umerziehungsdiktatur, durch die sie dem Ziel nach zu einer dann spontan handelnden, nach ihrere Ideologie und in den kulturellen Verhaltensmustern homogenen Masse geformt wird. Dieses Kennzeichen mag für andere Diktaturen zutreffen, für die DDR gilt es nicht und auch nicht für Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei. Das Regime hat zu keiner Zeit die Menschen aus der teils störrisch widerstrebenden, teils offenen Verweigerungshaltung, aus der hartnäckig verteidigten Eigenwelt heraustreiben können.

Den paradoxen Höhepunkt erreicht die windschiefe Darstellung der DDR, wenn die größten Ereignisse ihrer gesamten Geschichte, der Aufstand der Bevölkerung, die Auflösung des SED-Staates und die deutsche Vereinigung, als dreizehnter Unterabschnitt im Kapitel „Entwicklungsprozesse politischer Herrschaft in der Bundesrepublik“ abgehandelt werden. Abschließend übernimmt Wehler zustimmend den halb resignierten, halb erbitterten Ausspruch von Stefan Heym, dass die DDR eine „Fußnote der Weltgeschichte“gewesen sei. Dass die Eintragung einer solchen Fußnote ins Buch der Weltgeschichte dann eigentlich nicht der deutsche Beitrag zu der ebenfalls behaupteten epochalen Umwälzung von 1990 und damit der Höhepunkt und Abschluss der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ gewesen sein könne, diese logische Schlussfolgerung kommt ihm wohl nicht in den Sinn. Wehler legt eine Gesellschaftsgeschichte vor, in deren einem Teil der Gegenstand („das Volk – ein Volk“) nie handelndes Subjekt, sondern nur erduldendes Objekt, eine stets „durchherrschte“ Schafherde ist. Er blendet das Handeln dieser Gesellschaft und die Wechselwirkung mit der zu ihr antagonistisch konstruierten westlichen fast völlig aus und betrachtet diese sozusagen mit dem Rücken zur Mauer stehend nur in Richtung Westen blickend. In einer solchen Erzählung kann ich meine Position als Deutscher, der die Schrecken des Krieges erlebt hat und sein bewusstes Leben in der DDR verbringen musste, nicht wiederfinden. Andere mögen sich wiedererkennen – ich bin hier ein Fremder, stehe allerdings nicht allein da.

Der Autor ist Molekularbiologe und war 1990 Mitglied der ersten freien Volkskammer der DDR.

Jens Reich

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