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Meinung: Mein 2. Juni 1967 …

… war anders: Der Schatten, den die Studentenrevolte warf, war stets mächtiger als sie selbst

Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch ihr Wendepunkt, wie Tilman Fichter (Tagesspiegel vom 31. Mai 2007) es für diesen Tag in Anspruch nimmt? Aber Wende wohin? Mein 2. Juni sieht – obwohl wir der gleichen Generation angehören – anders aus. Das liegt nicht nur daran, dass ich damals in Tübingen studierte. Also: keine aufgewühlte Freie Universität, kein Großstadtleben, keine reißerische Boulevardpresse. Doch die damaligen Debatten – über den Zustand der Republik, das Verhalten der Väter im „Dritten Reich“, die Gefahren für die Demokratie – wurden auch dort geführt, und drei Tage nach Ohnesorgs Tod schlug sich die Erschütterung darüber in einer Demonstration mit mehr als 2000 Teilnehmern nieder – ein Ereignis für die kleine Universitätsstadt.

Allerdings war der 2. Juni für so gut wie alle in meinem Bekanntenkreis keineswegs das rechtfertigende Fanal für die antiautoritäre Revolte. Der Schrecken, der mich durchfuhr, als mich die Nachricht erreichte – bei der Heimkehr von einem Nachmittag auf einer ländlichen Obstwiese, es war ein Sonnabend –, machte sich in dem Argwohn Luft: Jetzt haben sie einen Märtyrer! Sie: Das waren unsere radikalen Kommilitonen, die schon kräftig an allem Bestehenden rüttelten, auf Rudi Dutschke und seine Tiraden schworen und uns in der Mensa mit Flugblättern über den antiimperialistischen Kampf bombardierten. Wir: Das waren jene Studenten, die sie und ihre Aktivitäten zumindest irritiert, eher distanziert, wo nicht kritisch-ablehnend betrachteten.

Dabei waren wir keineswegs unpolitisch. Wir saßen in den Vorlesungen von Ralf Dahrendorf, der in Tübingen gerade als neuer Stern am Universitätshimmel aufgegangen war, lasen treu und brav die „Zeit“, den „Spiegel“, auch mal den „Monat“, seltener „konkret“ und stritten über Notstandsgesetze und Bildungspolitik. Soweit ich es von heute aus einschätzen kann, hatten wir gerade unsere Politisierung hinter uns. Sie bestand allerdings in der Bekehrung zur Weisheit von Demokratie und Parlamentarismus. Anders gesagt: Uns hatte eingeleuchtet, dass die parlamentarische Demokratie doch die beste aller möglichen politischen Welten sei, und was ihren Zustand in der Bundesrepublik anging, so fanden wir ihn, selbstverständlich, stark verbesserungsbedürftig, aber eben auch verbesserungsfähig. Das machte uns immun gegen die Ideen von Dutschke und Co.

Es trifft ja nicht zu, dass die Bundesrepublik damals eine verbohrte, gegen die NS-Vergangenheit verschlossene Gesellschaft gewesen war. Seit Beginn der sechziger Jahre geriet sie, im Gegenteil, in Bewegung, im kritischen Sich-Absetzen von den langsam, zu langsam abziehenden fünfziger Jahren. Der Auschwitz-Prozess und Hochhuths „Stellvertreter“ rissen den Problemhorizont auf, Bücher wie Brachers „Auflösung der Weimarer Republik“, Sontheimers „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“ oder Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ schufen ein neues zeithistorisches Bewusstsein. Und als 1964 in Tübingen die erste Vorlesungsreihe über „Deutsches Geistesleben und der Nationalsozialismus“ begann, konnte der Festsaal der Universität die Zuhörer nicht fassen. In gewissem Sinne steht ja auch die Studentenrevolte in dieser Linie, jedenfalls in ihren Anfängen. Denn die Dahrendorf und Augstein, Hentig und Kogon waren auch ihre Götter.

Man kommt nicht daran vorbei: Gerade auch in Bezug darauf wurde der 2. Juni zum Wendepunkt. Denn er löste einen Radikalisierungsschub aus. Von ihm aus wird Gudrun Ensslins Absage an die Vätergeneration datiert, nach der man nicht mit Leuten reden könne, die „Auschwitz gemacht haben“. Helmut Gollwitzer beschwor die Gefahr des Faschismus. Gerd Koenen berichtet in seinem „Das rote Jahrzehnt“, wie die Berliner Eskalation Dutschke und seine Mitkombattanten zu Wahnfantasien über eine absehbare Machtergreifung veranlasste. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass es der Kongress nach der Überführung von Benno Ohnesorg nach Hannover war, auf dem Jürgen Habermas – durchaus Sympathisant der Studenten – vor einem „linken Faschismus“ warnte.

Die Wirkungen der Studentenrevolte auf die Entwicklung der Bundesrepublik sind gar nicht zu überschätzen. Gerade deshalb besteht Anlass, sich vor ihrer Mythisierung zu hüten. Dazu gehört, sich klarzumachen, dass der Schatten, den sie in die Gesellschaft der Bundesrepublik warf, immer mächtiger war als sie selbst. Sie hat es fertiggebracht, in jedermanns Gemüt die Vorstellung einzupflanzen, die Luft der Hochschulen sei damals von fliegenden Tomaten erfüllt gewesen und in jedem Hörsaal habe der Aufruhr genistet. Doch selbst in ihren Hoch-Zeiten wurde weiter studiert, und was die Fakultäten jenseits von Geistes- und Sozialwissenschaft angeht, so beschränkte sich ihre Anteilnahme an der Revolte ohnedies auf die staunende Erörterung dessen, was an deren Hauptschauplätzen vor sich ging.

Auch deshalb stimmt die Behauptung nicht, dass der 2. Juni einen Kampf zwischen den Generationen – nach dem Muster: da die NS-kontaminierten Väter, dort die rebellierenden Studenten – ausgelöst habe. Das gab es, aber die Konfliktlinien, die damals aufbrachen, waren komplizierter. Nicht die unwichtigste verlief zwischen denen, die sich auf die Gesellschaft und ihre Ordnung eingelassen haben, und jenen, die gegen sie Sturm gelaufen sind. Oder, wie Peter Glotz gegen den Grünen-Politiker Rezzo Schlauch eingewendet hat – zur Zeit des Streits über die Frankfurter Aktivitäten des damaligen Außenministers: zwischen den Mainstream-Biografien und den Putzgruppen-Karrieren.

Ein Toter, ein zerstörtes Leben sind ein Faktum, gegen das man nicht recht haben kann. Auch ist offenkundig, dass der Grund für die Katastrophe im Versagen der Polizei lag und die Krawallabsicht der Protestaktivisten dafür nur den Anlass gab. Mein Bild des 2. Juni 1967 bleibt dennoch zwiespältig. Denn auch die Studentenbewegung, der sie einen wichtigen Schub gab, war zwiespältig. Um das mindeste über sie zu sagen.

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