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Frauen, die durch die Dürre vertrieben wurden, stehen im Lager Kaam Jiroon für Binnenvertriebene Schlange, um Wasserbehälter zu füllen. Eine beispiellose vierte ausgebliebene Regenzeit mit katastrophalem Hunger, Krankheit und Vertreibung hat Somalia in eine Krise gezwungen.

© Abdulkadir Mohamed/Norwegian Refugee Council/AP/dpa

Besuch in einem Notlager in Somalia: „Als wäre ein Fluch über uns gekommen“

Die Dürre in Somalia scheint kein Ende zu nehmen. Millionen Menschen hungern, Kinder sterben. Ein Bericht aus einem Notlager.

Von Johannes Dieterich

Es regnet im Herzen der Dürre. Erst nieselt es nur, dann folgen Schauer, bis sich die Krater in Baidoas Hauptstraße in Teiche verwandelt haben. Ziegen suchen Schutz an den Mauern baufälliger Häuser, die dreirädrigen Tuk Tuks drohen im Schlamm zu versinken.

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In einem Flüchtlingscamp am Rande der somalischen Provinzstadt arbeitet Siid Noor Anen noch ein bisschen schneller an seinem aus Ruten und Plastikplanen bestehenden Dom-Zelt, damit er heute Nacht ein Dach über dem Kopf hat. Da hört der Regen allerdings schon wieder auf.

Siid kam gestern mit seinem Sohn und zwei Töchtern aus dem 30 Kilometer entfernten Dorf Ufurow. Sie mussten ihre Heimat heimlich mitten in der Nacht verlassen, weil die Al-Shabab-Milizionäre, die Ufurow kontrollieren, niemanden gehen lassen wollen.

Die islamischen Extremisten sind auf die Dorfbewohner als Ernährer angewiesen: Siid musste ihnen immer mal wieder eine seiner einst 13 Kühe als „Steuer“ bezahlen – die verbliebenen Rinder sind inzwischen verhungert. Auch seine Frau starb vor zwei Wochen: Hätte sie sich nur nicht bloß um die Familie, sondern auch um sich selbst gekümmert, klagt der 50-jährige Farmer.

147 Familien leben derzeit in Baidoa

Im Flüchtlingslager Bulo Isak leben gegenwärtig 147 Familien, heute kamen schon wieder zwölf neue hinzu – und es ist noch nicht einmal Mittag. Baidoa ist mit Flüchtlingscamps gespickt. Meist sind die Bewohner der Camps zu Fuß oder mit dem Eselskarren aus allen Teilen der Bay-Region nach Baidao gekommen: Mit ihren fruchtbaren Böden galt sie als Somalias Kornkammer.

Nachdem inzwischen vier Regenzeiten in Folge ausfielen, wächst in der Bay-Region außer Dornbüschen nichts mehr: Daran werden auch die derzeitigen Schauer nicht viel ändern – sie kommen zu spät. Weil es zu Beginn der Regenzeit keine Niederschläge gab, brachten die Farmer auch keine Saat aus – abgesehen davon, dass keiner von ihnen nach der anderthalbjährigen Dürre noch über Saatgut verfügte.

Falls überhaupt, setze der Regen immer unberechenbarer ein, sagt Siid: Niemand wisse mehr, wann er die Saat ausbringen soll. „Als ob ein Fluch über uns gekommen sei.“

Acht Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen

Somalia ist Dürren gewohnt. Die letzte war vor fünf, eine verheerendere vor elf, eine „historische“ vor 38 Jahren. „Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie“, sagt eine 80-jährige Frau, während sie mit ihrem Stock einen Kreis neben Siids Baustelle in den Boden zieht – der Grundriss ihres künftigen Zuhauses.

Fällt auch die Regenzeit im September aus – was Experten für wahrscheinlich halten – wird diese Dürre als die längste in die Geschichte des Landes eingehen. Schon jetzt sind acht Millionen Somalierinnen und Somalier auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, melden die Vereinten Nationen: Fast die Hälfte der Bevölkerung.

Wann auch offiziell eine Hungersnot ausgerufen werden muss, sei nur eine Frage der Zeit, prognostizieren Hilfsorganisationen: Der letzten, 2011, fielen mehr als 260.000 Menschen zum Opfer. „Damals haben wir alle geschworen, dass so etwas nie wieder vorkommen soll“, sagt Claire Sanford, Vizedirektorin bei „Save the Children“: „Jetzt droht es sogar noch schlimmer zu werden.“ Schon heute stirbt in Baidoa fast täglich ein Kind an den Folgen von Unterernährung: Die Welt ist mit anderem beschäftigt.

Zu Fuß unterwegs zum Lager

Auch Hawa Isaq Abubakar hat schon eines ihrer fünf Kinder verloren: Ihren zweitjüngsten Sohn musste sie im Alter von 18 Monaten begraben. „Es gibt nichts schlimmeres, als ein Kind zu verlieren“, sagt die 35-jährige Mutter. Ihr Mann verließ inzwischen die Familie: Was aus ihm wurde, weiß sie nicht.

Hawa machte sich mit ihren Kindern zu Fuß auf den 90 Kilometer langen Weg von ihrem Dorf nach Baidoa: Dort würden ihr ausländische Organisationen helfen, sagte man ihr. Seit 19 Tagen zwängt sich die Mutter Abend für Abend mit ihren vier Kindern ins Zelt neben Siids Rohbau: Doch geholfen hat ihr bislang noch niemand.

Außer der Nachbarin, die ihr hin und wieder den Rest ihres schleimigen Okra-Gemüses überlässt. Tagsüber stromert Hawa durch die Büsche, um Brennholz zu sammeln, das sie für einen Dollar auf dem Markt verkauft. Davon kann sie sich ein Kilo Maismehl leisten. Zumindest heute noch. Morgen könnte es schon wieder teurer sein.

Ein Liter Speiseöl kostet in Baidoa heute doppelt so viel wie vor einem Jahr. Für die Inflation wird der Ukraine-Krieg mit seiner weltweiten Verknappung von Sonnenblumenöl und Weizen verantwortlich gemacht. Doch der ferne Krieg mit den hautnahen Folgen ist nur die Spitze an Krisen.

Gleichzeitig wütet noch ein Bürgerkrieg

Vor zwei Jahren fraßen hier riesige Heuschreckenschwärme alles auf, was grün war. Anschließend kam die Dürre – und dann die Corona-Pandemie. Und das alles, während in Somalia seit anderthalb Jahrzehnten ein Bürgerkrieg zwischen den Extremisten und einer schwächlichen Zentralregierung tobt: Al-Schabab (arabisch: die Jungs) kontrolliert einen Großteil des Hinterlands, die Regierung vor allem die Städte. Was nicht heißt, dass man sich dort sicher fühlen könnte: In Mogadischu kommt es im Schnitt zu 30 Anschlägen im Monat.

Das macht den ausländischen Hilfsorganisationen die Arbeit schwer. Die „Jungs“ nehmen Menschen mit bleichen Gesichtern als wandelnde Geldautomaten wahr. Aus Angst vor Entführungen müssen die Helfer den Weg von einer Stadt zur anderen im Flugzeug zurücklegen, den Weg vom Flugplatz zum Hotel im gepanzerten Geländewagen. Reporter haben an einem Ort nur eine Stunde Zeit, um mit den Menschen zu reden, weil sich ihre Gegenwart schnell herumspricht.

Um neun Uhr morgens haben sich in einer von „Save the Children“ geführten Klinik in Baidoa schon über 50 Mütter mit ihrem Nachwuchs eingefunden. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die meisten Kinder unterernährt sind: Ihre Haare färben sich blond, ihre Bäuche sind aufgebläht, an den Köcheln bilden sich Hunger-Ödeme.

Abubakir Ali Ukas ist 14 Monate alt und sechs Kilogramm schwer – fast die Hälfte des Gewichts, das er in diesem Alter auf die Waage bringen sollte. Ein Gesundheitshelfer misst den Umfang seines Oberarms: Das Maßband zeigt 10,5 Zentimeter im dunkelroten Bereich.

Der Junge nehme seit mehreren Tagen keine feste Nahrung mehr zu sich, sagt seine Mutter Shakira. Sie lebt schon seit einem Jahr im Flüchtlingscamp: Die 35-Jährige hatte einst acht Kinder, jetzt sind es nur noch fünf. Ihr zweitjüngster Sohn starb neben ihr im Zelt. Er war zwei Jahre alt.

Die medizinische Station im Lager von Baidoa ist für viele Eltern und Kinder die letzte Hoffnung.

© Eva-Maria Krafczyk/dpa

Eine Zeitlang habe sie von einer Hilfsorganisation monatlich 60 Dollar bekommen, erzählt Shakira. Das hörte irgendwann auf: Weil kein Geld mehr vorhanden sei, sagte man ihr. Seitdem sammelt sie entweder Brennholz oder wäscht für jemanden die Wäsche: Mit dem 1-Dollar-Tageslohn muss sie ihre sechsköpfige Familie versorgen.

Die internationale Hilfsaktion in Somalia ist heillos unterfinanziert. Von den 1,5 Milliarden Dollar, die die Vereinten Nationen angefordert haben, sind bislang weniger als 500 Millionen eingegangen. Vor fünf Jahren, als eine Hungersnot vermieden werden konnte, standen „Save the Children“ für Somalia im ersten Halbjahr noch 110 Millionen Dollar zur Verfügung, mit denen 1,4 Millionen Kinder erreicht wurden, rechnet Adan Farah Mohumed, Berater der Hilfsorganisation in Mogadischu, vor.

Der Ukraine-Krieg macht Hilfe immer teurer

Dagegen waren es in der ersten Hälfte dieses Jahres nur 30 Millionen Dollar, womit gerade mal 400.000 Kindern geholfen werden kann. In dieser Kalkulation sei nicht einmal eingerechnet, dass die Hilfe wegen des Ukraine-Kriegs immer teurer werde, fügt Abdinasir Abdi Arush, Minister für Humanitäre Angelegenheiten in der Südwest-Provinz hinzu: „Auf diese Weise wird sich eine Hungersnot wohl nicht vermeiden lassen.“

Laila Hassan Rowle sitzt auf einem von zwölf Betten in einem knapp 20 Quadratmeter großen Raum des „Stabilisierungs-Zentrum“ von Baido – auf ihrem Arm der zweijährige Mukhtar, hinter ihr im Bett liegt die 40 Tage alte Bisharo. Als die 17-jährige Mutter vor drei Tagen hier ankam, war Mukhtar bewusstlos: Noch immer öffnet er seine Augen nicht – als ob er noch zögere, ins Leben zurückzukehren.

Der Körper des Jungen ist von einem Ausschlag überzogen, eine der zahllosen Folgen von Mangelernährung. Mukhtar trinke nicht einmal mehr von ihrer Brust, sagt seine Mutter. Ob Mukhtar durchkommen wird, werde sich erst in den nächsten Tagen entscheiden, sagt Abdul Fakar Ibrahim, Chef der ebenfalls von „Save the Children“ betriebenen Stabilisierungsstation.

Täglich kommen 30 Kinder in die Notstation

Am Eingang der Klinik ist eine Tafel mit nüchternen Zahlen angebracht. Danach wurden im April 232 Kinder eingeliefert, im Mai waren es schon 398, im Juni 471. Davon starben im April vier Kinder, im Mai schon acht, im Juni 18. „Es wird schlimmer und schlimmer“, sagt Abdul: „Wenn nicht bald etwas passiert, wird es zu einer Katastrophe kommen.“

Der Chef der Notstation stellt sich schon darauf ein: Neben der Klinik ließ er drei Zelte errichten, um die Gesamtzahl der Patienten von derzeit 150 auf 200 steigern zu können. Täglich kämen rund 30 neue hinzu, sagt Abdul.

Somalia werde durch die Dürre von Grund auf verändert, fährt der Stationschef fort. Derzeit geben auch die letzten nomadischen Viehhirten ihr Wanderleben auf; außerdem kämen Zigtausende von Kleinfarmern in die Städte geströmt. Dass sie jemals wieder zurückkehren, bezweifelt Abdul: „Unserer Landwirtschaft wird das den Todesstoß verpassen.“

Die Namen der Geflüchteten und ihrer Kinder wurden geändert.

Johannes Dieterich

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