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Politik: Koalitionsvertrag Was ist vom geblieben?

Die schwarz-gelbe Koalition wollte das Land „mit neuem Denken“ gestalten. Dann kam ihr die Realität dazwischen: Eine Reise durch eine Vergangenheit, die nur drei Jahre zurückliegt.

Von Antje Sirleschtov

Zum Schluss hatte Guido Westerwelle gelbe Zettel verteilen lassen. Das war Ende Oktober 2009. Auf den Zetteln waren Punkt für Punkt die Details des liberalen Wahlaufrufes vom September vermerkt und den entsprechenden Festlegungen im Koalitionsvertrag gegenübergestellt. Westerwelles Botschaft war eindeutig: 19 Tage lang hatten Angela Merkel, Horst Seehofer und er miteinander verhandelt. Und am Ende glaubte sich die FDP in diesem Vertrag mit all ihren Wahlversprechen gegen CDU und CSU durchgesetzt zu haben. Dem liberalen Finanzfachmann Hermann Otto Solms versprach Westerwelle später sogar öffentlich, dessen „Stufentarif“ werde nun in einem „einfachen, niedrigen und gerechten Steuersystem“ alsbald in die Realität umgesetzt.

Drei Jahre ist das erst her und trotzdem scheinen diese Botschaften aus einer längst vergessenen Zeit zu stammen. Heute mag man darüber nur noch schmunzeln. Glaubte dieses schwarz-gelbe Bündnis wirklich, einen so radikalen Umbau des Steuersystems vornehmen zu können, plus Milliarden-Steuersenkungen? Mit dem Blick zurück auf diese drei Jahre Schwarz-Gelb kann man sich das nicht vorstellen. Zu inhaltsleer erschien diese Koalition, zu wenig miteinander vertraut, zu weit weg von einem politischen Bündnis, das dem „Land eine neue Richtung“ geben wollte, wie es in der Präambel des Koalitionsvertrages vollmundig gleich auf Zeile zwei formuliert steht. Mit „Mut zur Zukunft“, heißt es da, wollten Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer Deutschland zu einem „neuen Aufbruch in das neue Jahrzehnt führen“ und die Zukunft „mit neuem Denken“ gestalten.

Neu ist seitdem in der Tat vieles im Land und auch Zeichen eines Aufbruch sind hier und da zu sehen. Doch hat das wenig mit dem Vertrag dieser drei Partner zu tun. Die Realität hat ihnen seither Aufgaben gestellt, die mit keinem Wort auf den 130 Seiten des Vertrages vermerkt sind, und von dem, was Union und FDP dort niedergeschrieben haben, ist kaum etwas Realität geworden.

Dass Koalitionsverträge zu Beginn einer Legislaturperiode allenfalls Grundzüge gemeinsamer Regierungspläne fassen und selten eins zu eins umgesetzt werden, ist nicht neu. Beinahe jede Regierung musste die Erfahrung machen, dass Wunsch und Wirklichkeit auseinanderfallen. Man denke nur an die Agenda 2010 und die Reformen am Arbeitsmarkt, die Gerhard Schröder in den Jahren 2003 und später festschrieb – und die in keinem rot-grünen Koalitionsvertrag auch nur erwähnt wurden. Und auch die massiven Auswirkungen der Finanzmarktkrise ab 2008 auf Wachstum, Beschäftigung und vor allem die Haushaltspläne der großen Koalition konnte niemand vorhersehen. Koalitionen mussten schon immer mit Unwägbarkeiten umgehen, an deren Bewältigung misst sich ganz wesentlich ihre Daseinsberechtigung.

Dennoch gibt es etwas, das dieses Bündnis von seinen Vorgängern unterschieden hat, von Anfang an. Es war und es ist bis heute die Abwesenheit eines gemeinsamen Zieles. Das mag angesichts der mannigfaltigen Beteuerungen von Unionspolitikern und solchen der FDP, man habe ein Wunschbündnis geschmiedet und sei trotz aller Differenzen so nah beieinander wie mit keiner anderen politischen Kraft, befremdlich klingen. Wahr ist es dennoch und lässt sich an unzähligen Momenten in den vergangenen drei Jahren belegen. Zunächst am Vertrag selbst, der in atemberaubender Geschwindigkeit ausgehandelt wurde (siehe Kasten), und in dem sich außer gemeinsamen Bekenntnissen zu sozialer Marktwirtschaft und Wachstum in beinahe jedem Kapitel Formulierungen finden, die jedem Partner später ein Hintertürchen offen ließen, um sich aus den einmal festgeschriebenen Verabredungen herauszuwinden. Hintertürchen, die letztlich auch zu der paradoxen Entwicklung geführt haben, dass die Spitzen der Koalition bei ihren (ohnehin seltenen) Treffen immer wieder neu über eigentlich bereits Beschlossenes verhandeln mussten und bei denen sie sich zum Teil, man denke nur an Themen wie die Vorratsdatenspeicherung oder die Reform der Mehrwertsteuersätze, bis heute nicht einig sind.

Ursachen dafür gibt es viele. Da ist die Vorliebe der Kanzlerin, „auf Sicht“ zu fahren und politische Prozesse weniger zu steuern als zu moderieren. Oder die objektive Schwierigkeit eines Dreierbündnisses, in dem der kleinste Partner, die CSU, ein schier unstillbares Verlangen nach Selbstbehauptung auslebt. Und auf jeden Fall der Identitätsverlust der FDP, der kurz nach der Regierungsübernahme eingesetzt hat, bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist und von der Union dauerhaft als chaotisch und als Quell von Unzuverlässlichkeit empfunden wird. Gegenseitiges Misstrauen prägte diese Koalitionspartner schon während der Verhandlungen und tut es bis heute.

Wo man sich seiner selbst jedoch nicht gewiss ist, können auch grundlegende Reformen nicht gelingen. Was hatten sich Union und FDP nicht alles vorgenommen: Das Dickicht im Steuer- und Abgabenbereich sollte gelichtet werden, bis hin zur Zusammenfassung von Leistungen in einem Bürgergeld. Die unübersichtlichen Familienleistungen wollte Schwarz-Gelb sichten und effektiver gestalten, für Gleichberechtigung von Mann und Frau sorgen und Regelungen auf den Weg bringen, um „Lohndumping zu verhindern“. In jedem dieser wenigen Bereiche der Politik hätten die Partner, die doch von sich behaupten, dass sie einander grundsätzlich nah sind, Pläne ins Werk setzen können, die das Leben leichter und die Gesellschaft gerechter machen, ohne die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen zu schleifen. Stattdessen beherrschte Zwist um Details und Überschriften die Agenda – vom Betreuungsgeld über den Mindestlohn bis hin zur Mindestrente. Inhaltlich wirklich vorangekommen im Sinne grundlegender Änderungen ist man nirgendwo richtig.

Ganz und gar ungerecht bliebe eine Bewertung des Koalitionsvertrages „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“ allerdings, würde man die sogenannten exogenen Ereignisse, die Schwarz-Gelb eher wie Schocks erwischt haben, unter den Teppich kehren. Zunächst waren die Jahre von zahlreichen Veränderungen beim Spitzenpersonal gezeichnet. Ein Verteidigungsminister (Karl-Theodor zu Guttenberg) musste gehen, ein Wirtschaftsminister (Rainer Brüderle) wurde ersetzt, Angela Merkel verlor ihren Vizekanzler (Guido Westerwelle), der Gesundheitsminister (Philipp Rösler) wollte nicht länger in seinem Amt bleiben, ein Umweltminister (Norbert Röttgen) wurde herausgedrängt und nicht zuletzt musste ein Bundespräsident (Christian Wulff) den Hut nehmen. Das alles hat Unruhe gestiftet und die Arbeit der Koalition natürlich behindert. Wer nicht regelmäßig die politischen Nachrichten verfolgte, konnte leicht den Anschluss verpassen, und schelmisch vermutet mancher Beobachter gar, die guten Umfragewerte von Angela Merkel haben vor allem etwas damit zu tun, dass die Leute draußen im Land froh sind, wenigstens ein bekanntes Regierungsgesicht im Fernsehen zu sehen. Allein das Bundeswirtschaftsministerium musste in den zurückliegenden fünf Jahren vier ganz unterschiedliche Minister ertragen.

Dennoch standen die Personalwechsel in keinem Verhältnis zu den zwei wohl herausragendsten Ereignissen dieser Regierungsperiode der schwarz-gelben Koalition: Der Euro-Krise und der Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Im Koalitionsvertrag ist davon natürlich kein Wort vermerkt, Atomenergie wurde als „Übergangstechnologie“ bezeichnet und mit einer mehr oder weniger konkreten Überlebensgarantie ausgestattet. Und Europa erscheint bei der Lektüre des Vertrages als Hort von Stabilität und Sicherheit.

Beide Ereignisse haben diese Legislaturperiode überschattet und die Inhalte des Koalitionsvertrages zu Nebensächlichkeiten werden lassen. Fukushima ließ die Koalition der Atomkraft zur Koalition des Atomausstiegs werden, was im Selbstverständnis aller ihr angehörenden Parteien im Grunde bis heute nicht vollständig verarbeitet werden konnte. Wen wundert es, dass Schwarz-Gelb bei der Energiewende nicht vorankommt und in der Öffentlichkeit den Eindruck einer Gruppe von Vegetariern hinterlässt, die mit der nationalen Organisation der Rindermast beauftragt wurde.

Was zumindest im Prinzip auch auf die Euro-Krise zutrifft. Berühren doch der Erhalt Europas und vor allem der Stabilität seiner Währung die Grundüberzeugungen aller drei Koalitionsparteien im Kern. Denn es geht bei den Hilfen für Griechenland, Spanien, der Rettung von Banken und Rettungsfonds für die Zukunft im Grunde immer um ein und dieselbe Frage von Selbstverantwortung und Solidarität – und damit um eines der Kernversprechen von Union und FDP: Wohlstand für alle. Als Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer 2009 ihre Unterschrift unter den Koalitionsvertrag gesetzt haben, da schienen sie sich zumindest in der grundsätzlichen Beschreibung dessen nah, was nötig ist, um dieses Versprechen einzulösen: weniger Staat, mehr Eigenverantwortung. Nun heben Christdemokraten und Liberale die Hände immer wieder für Stützungsmaßnahmen, deren wirtschaftliche Rendite (zumindest im Fall Griechenland) mehr als ungewiss ist und zudem auch noch ganz unmittelbar über den Staatshaushalt und das Wirtschaftswachstum nationale Interessen berühren. Die Realität, so viel ist sicher, hat manche Gewissheiten im Koalitionsvertrag ins Wanken gebracht.

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