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Landeshauptstadt: Schatten der Vergangenheit

Archäologen können die Verfärbungen der Erde lesen

Archäologen können die Verfärbungen der Erde lesen Von Karsten Sawalski Spektakuläre Funde haben die beiden Archäologen am ersten Grabungstag noch nicht vorzuweisen. Nur einige kurze Mundstücke weißer Tonpfeifen aus dem 17. oder 18. Jahrhundert liegen auf dem dicken Kopfsteinpflaster neben der aufgerissenen Großen Fischerstraße. Der Diplom-Prähistoriker Jonas Beran kniet auf dem Boden eines Grabens, der einen Meter tief und nur ungefähr halb so breit ist, und schabt mit einer Art Kelle den losen Sand von einer dunklen Humusschicht. Zum Vorschein kommen helle Kreise mit ebenso hellen Schlieren. „Hier am Ufer der Havel könnte einmal ein Weg verlaufen sein, auf dem Menschen Kühe trieben“, folgert der Archäologe sofort, „oder ein Treidelweg, von dem aus die Boote gezogen wurden“. Erstaunlich! Unbedarfte Augen hätten nur dunkle und helle Erde erkannt und deren Zusammentreffen für eine Willkür der Natur gehalten. Die Umgebung lässt mehr vermuten. In der Nähe fanden die Archäologen Gräber der mittleren Jungsteinzeit und Beweise für eine slawische Besiedlung. So auch heute. Beran zeigt eine kleine Tonscherbe mit der typisch slawischen Linienführung. „Ob Sie es mir glauben oder nicht“, sagt Harald Reuße, der zweite Archäologe, „ich erkenne viele Scherben schon ohne Verzierungen daran, wie sie sich anfühlen“. Das Gewicht und die Konsistenz der kleinen Überreste ehemaliger Behältnisse würden ihm deren Zusammensetzung und die Hitze des Brennofens verraten. Dadurch wüsste er, ob es sich um reichverzierte Krüge, der im 7. Jahrhundert eingewanderten Slawen handelt, oder um einfachere Behältnisse aus der Bronzezeit. Reuße gräbt bereits seit zwanzig Jahren. Er ist einer der beiden Geschäftsführer der Ausgrabungsfirma Archäologie Manufaktur GmbH. Sein spektakulärster Fund war die vollflächige Ausgrabung einer germanischen Siedlung in Dallgow. Neben 27 Brunnen unterschiedlichster Bauart wurden dort eine ganze Reihe von Hausgrundrissen freigelegt, die sowohl die Bandbreite bekannter Langhaustypen als auch die der Grubenhäuser widerspiegelt. Aber Reuße ist nicht auf Sensationsentdeckungen aus. „Ich habe auch bei ganz profanen Funden meine Freude“, sagt er. Die beiden Wissenschaftler sind schon froh, dass sie in Potsdam fast immer dabei sein dürfen, wenn irgendwo eine Straße aufgerissen wird. „Das wird nicht überall so entgegenkommend gehandhabt“, sagt Reuße, der aus Thüringen stammt, aus eigener Erfahrung. Hier in Potsdam engagiere sich die Stadtarchäologin Gundula Christl ganz besonders. In der Großen Fischerstraße verlegt die Firma Potsdamer Bauausführung GmbH eine Fernwärmeleitung. Die Archäologen dürfen bereits nach dem Entfernen des Kopfsteinpflasters eine erste Sichtung durchführen. Bis zu einem Meter Tiefe schaufeln sie nur Sand heraus. Wahrscheinlich Auffüllungen, die vom Bau der angrenzenden Häuser, Ende des 18. Jahrhunderts, stammen, meint Beran. Auf diesem Niveau stoßen sie dann auf die dunkle Humusbodenschicht, die nur sehr dünn ist und sich nach weiter unten wellenförmig vom ganz hellen, ursprünglichen Ufersand abzeichnet. „Die Wellen deuten auf Umgrabungsarbeiten hin, wahrscheinlich haben sie hier ihre Möhren wachsen lassen“, deutet Reuße. Der Archäologe gräbt mit der Schaufel an einem quer verlaufenden Tonrohr noch tiefer. Er weiß genau, warum er nicht Pinsel und Pinzette benutzt, wie es so oft im Fernsehen zu sehen ist. „Für das Rohr wurde hier ja schon einmal gegraben, ich kann an dieser Stelle nichts mehr kaputt machen“. Wie farbig simple Erde sein kann zeichnet sich nun im Querschnitt ab: Fast schwarz wirkt die Humusschicht, darunter der fast weiße Flusssand und am Rand eine scharf geschnittene, graumelierte Erdmasse. „Das war ein Abwasserkanal aus dem 20. Jahrhundert“, sagt Reuße sicher, die linealgerade Abgrenzung spräche deutlich für die moderne Bauweise. Ältere oder uralte Spuren im Sand treten nicht so augenscheinlich hervor. Einen zugeschütteten und überwachsenen Graben einer Wehranlage könne man nur im Querschnitt erkennen, wenn sich das Mischmaterial von der umgebenen, einheitlichen Erde abhebt. Manche Verfärbungen wirken wie Schatten. So beispielsweise das Gräberfeld aus der frühen Bronzezeit in der Schiffbauergasse. Für den Laien nur schwer erkennbar, hatten die restlos aufgelösten Särge und eine Leiche durch die Verfärbung in der Erde ihre Spuren hinterlassen. Archäologen lesen in der aufgegrabenen Erde wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Karsten Sawalski

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