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Kultur: Wut entbrannt

„Der Junge, der unsichtbar wurde“ ab heute im T-Werk

Ein ganz gewöhnlicher Junge ist Martin, er geht zur Schule, spielt gern Computer, liest auch mal ein Buch, fährt mit den Eltern in die Ferien, für gewöhnlich. Was aber ist gewöhnlich, fragt der dänische Autor Michael Ramlose in seinem Stück „Der Junge, der unsichtbar wurde“, das heute Abend im Theater Havarie im T-Werk Premiere hat.

Ramlose erzählt von einem Jungen, der so „gewöhnlich" ist, dass er die Aufmerksamkeit anderer verliert. Die Eltern bemerken ihn kaum, reden nicht mit ihm, sondern über ihn hinweg. Das Fußballspielen lässt Martin sein, weil er nicht angespielt wird. Die Mädchen ignorieren ihn, die Lehrer können ihn nicht einmal beim Namen nennen. Er fällt nicht auf und keiner merkt, was sich in Martin zusammenbraut, bis etwas Unfassbares geschieht.

Als Robert Steinhäuser im Frühjahr 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium ehemalige Lehrer und Mitschüler tötete, herrschte zunächst Sprachlosigkeit. Bald folgten eilige Erklärungen: zur Rolle Gewalt verherrlichender Medien, eines rigiden Schulsystems, fehlender Perspektiven. Später suchten Filme und Dokumentationen tiefer liegende, auch soziale Ursachen zu ergründen. Michael Ramlose veranlasste der Amoklauf von Schülern in Littleton/USA im Jahr 2000 dazu, das Jugendtheaterstück über den „Jungen, der unsichtbar wurde“ zu schreiben. Mit der Bluttat von Erfurt erhielt es in Deutschland traurige Realitätsnähe.

Weil Heranwachsende noch immer nach dem „Warum“ fragen und sich in ihrem Alltag oft selbst mit Gewalt und Aggressionen auseinander setzen müssen, hat die erfahrene Autorin und Regisseurin Ingrid Ollrogge Ramloses Stück für eine Inszenierung im Theater Havarie ausgewählt. Schülerinnen, die eine öffentliche Probe besuchten, bestätigten die Notwendigkeit, jugendliche Gewalt im Theater zu thematisieren. Es komme immer häufiger vor, so die Mädchen, dass in der Schule Waffen beschlagnahmt werden müssten und sich Jugendliche gegenseitig bedrohen würden.

Ingrid Ollrogge, die sich im Theater Havarie seit vielen Jahren schon mit Problemen Heranwachsender befasst, weiß um die Möglichkeiten, schwelende Konfliktlagen im Schauspiel auf den Punkt zu bringen. Und manchmal hilft ihr die Überhöhung, die Darstellung des Extremen, um den Nerv der Jugendlichen zu treffen und ihnen die Brisanz scheinbar normaler Abläufe in ihrem Alltag vor Augen zu führen.

Niemand hatte Robert Steinhäuser die Tat zugetraut. Auch Martin gehört zu den Stillen und Unauffälligen, zu denen, die sich lieber in sich zurückziehen, als einen Konflikt auszutragen oder auch mal laut zu werden, die Wut rauszulassen. Mehr und mehr wird er für andere unsichtbar und sein Gewaltausbruch dann schließlich unerklärlich. Mit dem Abstand zum fiktiven, teils absurden Spiel aber wird das Unerklärliche deutbar, das Besondere hinter dem Gewöhnlichen sichtbar. Wenn die jugendlichen Zuschauer aus dem Theater heraus eine größere Sensibilität in die eigene Lebenswirklichkeit hineinnehmen, ihr Blick sich schärft, wacher und aufmerksamer wird, hat Ingrid Ollrogge einiges von dem erreicht, was sie beabsichtigt.

In der Rolle des Martin ist der junge Schauspieler Vlad Chiriac zu erleben. Mareike Jaeger und Thorsten Junge spielen die Eltern, nehmen am Rande aber auch andere Positionen ein. „Der Junge, der unsichtbar wurde“ ist für Jugendliche ab 13 Jahren geeignet. Wie immer bietet das Theater Havarie Unterrichtsmaterialien zur Vorbereitung des Theaterbesuchs an und steht nach der Vorstellung für Gespräche bereit. Antje Horn-Conrad

Antje Horn-Conrad

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