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Exiljournalisten
Screenshot sendika.org, Foto: Hakan Fikri Bintepe

© Hakan Fikri Bintepe

Medien in der Türkei: Der Zensur ein Schnippchen schlagen

Nachrichtenportal wurde 63-mal gesperrt: Türkische Journalisten entwickeln kreative Wege, mit der Zensur umzugehen.

Von Aylin Kaplan

Gemäß des von Freedom House, der amerikanischen Organisation zur Verteidigung der Demokratie, aufgestellten Berichts 2023 über Internetfreiheit hat die Türkei ihr bislang schlechtestes Jahr im Bereich der Pressefreiheit verzeichnet. Die Türkei ist im Berichtsjahr von über 100 Punkten auf 30 gesunken. Laut dem Bericht von Freedom House gehört die Türkei damit sowohl im Index für globale Freiheit als auch im Index für Internetfreiheit zu den Ländern, in denen es am wenigsten Freiheit gibt.

Im Jahr 2023 ist die Türkei auch in dem von der international tätigen Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) alljährlich aufgestellten Ranking für Pressefreiheit 2023 gegenüber der Bewertung im Vorjahr noch weiter, nämlich von Platz 149 auf Platz 165 von insgesamt 180 Ländern, zurückgefallen.

2023 wurden in der Türkei 55 Journalisten festgenommen. 25 Journalisten wurden angegriffen. 81 Journalisten wurden entweder entlassen oder gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Weitere 42 Journalisten sahen sich körperlichen Belästigungen oder Angriffen ausgesetzt, zu ihrer journalistischen Tätigkeit eingesetzte Geräte wurden zerstört, oder sie wurden Opfer gezielter Angriffe oder verbaler Drohungen.

Ist es unter diesen harten Bedingungen überhaupt noch möglich, Journalismus zu betreiben? Können den Lesern überhaupt objektive Informationen vermittelt werden?

Bedenken wir: Nicht nur Machthaber sind „kreativ“ in Sachen Zensur und Unterdrückung unliebsamer Meinungen, sondern auch Journalisten besitzen „Kreativität“, wie sie trotzdem Nachrichten erstellen und verbreiten können. Ein Beispiel dafür ist das von der türkischen Regierung scharf zensierte alternative Nachrichtenportal „sendika.org“. Es lohnt sich, den „Hindernisparcours“ von Sendika.org zu erzählen, da er für Medienorganisationen, die anderswo in der Welt mit Zensur zu kämpfen haben, eine wichtige Inspirationsquelle darstellten kann.

Exiljournalistin Aylin Kaplan.

© Andreas Lamm

Am 25. Juli 2015 wurde das oppositionsnahe Nachrichtenportal Sendika.org, das auf einem presserechtsbasierten Journalismus aufbaut, wegen seiner Nachrichten über die Kriegspolitik der Regierung und deren hartes Vorgehen gegen die sozialistische Opposition gesperrt.

Diese Entscheidung wurde zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 2015 getroffen, in einer Zeit, als die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) in der Türkei ihre übergroße Mehrheit verlor und eine eigene Regierung bildete und die „Frist zur Lösung“ der kurdischen Frage ablief.

Die Redaktion des Nachrichtenportals, die zum ersten Mal in ihrer Tätigkeit mit einer solchen Zensur konfrontiert wurde, fand jedoch schnell eine praktische Lösung: Sie erwarb einen neuen Domainnamen und verlegte die Website auf die neue Adresse Sendika1.org. Das Redaktionsteam hatte auf diese Weise zwar die erste Zensur durchbrochen, war sich allerdings noch nicht bewusst, dass damit ein Hürdenlauf eingeläutet worden war, in dem es sich die Unendlichkeit der Zahlen zunutze machen musste.

Sendika.org wurde 63-mal gesperrt

Das neue Nachrichtenportal wurde in der Zeit zwischen dem 25. Juli 2015 und dem 20. September 2020 insgesamt ganze 63 Mal gesperrt. Fast jede Blockade des Nachrichtenportals ging mit einem Angriff oder einem Bombenanschlag kurz zuvor oder danach einher – wie beispielsweise der terroristische Anschlag in Ankara am 10. Oktober 2015.

Bei jeder neuen Sperrung erhöhte die Redaktion die Zahl in ihrer Internetadresse um eins, bis sie das Portal Sendika64.org erreichte. In derselben Zeit wurden Ermittlungen und Klagen gegen die Redakteure und Autoren und sogar gegen die Nachrichten verbreitenden Leser des Nachrichtenportals eingeleitet, Gefängnisstrafen verhängt und das Büro von Sendika.org polizeilich durchsucht.

Ein Fall für das Guinnessbuch der Rekorde

Sendika.org hat sich beim Guinnessbuch der Rekorde um einen Eintrag als „das am häufigsten zensierte und die Zensur überwindende Nachrichtenportal“ beworben.

Das Redaktionsteam überwand die Zensur nicht nur auf technische Weise, sondern versuchte auch mit rechtlichen Mitteln, sein Widerspruchsrecht durchzusetzen. Jede Sperrung des Portalaufrufs wurde gerichtlich angefochten, gleichzeitig wurden 17 separate Klagen gegen die Zurückweisung der Einsprüche beim Verfassungsgerichtshof eingereicht.

Blieben die Anträge lange Zeit unbeantwortet, wurden sie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgelegt. Auf Einschreiten des EGMR hin erließ das Verfassungsgericht zwei einzelne Schiedssprüche. Der EGMR hingegen forderte daraufhin die türkische Regierung auf, gegen die Schiedssprüche Einspruch zu erheben, damit das Gerichtsverfahren nicht zu einer Art Ablenkungsmanöver würde.

Schlussendlich kam am 27. Oktober 2020 das Friedensstrafgericht Gölbaşı bei Ankara, das 2015 den ersten Schiedsspruch auf eine Sperrung des Portalaufrufs erlassen hatte, der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 11. März 2020 über den „Rechtsverstoß“ nach und beschloss, die Sperre für das Aufrufen des Nachrichtenportals Sendika.org aufzuheben.

Somit konnte Sendika.org 1921 Tage nach der ersten Sperre seines Portals am 25. Juli 2015 wieder über seine ursprüngliche Internetadresse aufgerufen werden.

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