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Dazugehören. Der neue Zusammenhalt, der bei der WM 2006 zelebriert wurde, ist im Alltag nicht selbstverständlich. Foto: Caro/Hechtenberg

© Caro / Hechtenberg

Serie "Identitäten" - achte Folge: Als sei es immer schon klar

Unsere Welt ist besessen von der Suche nach Identitäts-Gemeinschaften. Doch wer Identitäten festlegt, spaltet in wahre und falsche, reine und unreine Zugehörigkeit, sagt die Sozialwissenschaftlerin Sabine Hark im achten Teil unserer Serie.

Identität hat Konjunktur. „Darmstadt“ oder „Christ“ heißt es schlicht auf den T-Shirts derjenigen, die meinen, ihre Identität schon gefunden zu haben. Zu den nach Identität Suchenden gehören aber auch Parteien wie die CDU, die sich besorgt fragt, was eigentlich noch ihren konservativen Kern ausmacht. Oder die Bundesregierung, die auf Integrationsgipfeln mit Migrantinnen und Migranten um Identität ringt. Auch ganze Kontinente, Europa beispielsweise, meinen, ohne Identität nicht bestehen zu können.

Ohnehin hat Identitätspolitik weltweit nicht erst seit 9/11 enorm an politischer Bedeutung gewonnen. Kaum eine politische Frage, die gegenwärtig nicht in der Sprache der Identität verhandelt wird, allen voran die Frage, wie viel Islam „der“ Westen verträgt.

Vielleicht ist der Bedarf nach Unterscheidbarkeit und Identität noch nie so groß gewesen wie heute. Identitätstauglich scheint alles und jedes: von der Kücheneinrichtung über die Yoga-Richtung bis zur Frage, wie man es mit Darwins Evolutionstheorie hält.

Unsere Welt ist eine Welt des neuen Stammestums: Sie ist besessen von der Suche nach Identitäts-Gemeinschaften. Sie allein scheinen angesichts der Unsicherheiten und Risiken einer kontingenten Existenz Sicherheit zu versprechen. Eine Identität zu „haben“, bedeutet aber auch, unter einer Reihe von Beschreibungen zu leben und innerhalb der Bedingungen zu agieren, die von diesen Beschreibungen gesetzt sind. Denn Identitätskategorien haben niemals nur einen deskriptiven und ermöglichenden, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter. In anderen Worten: Jungen spielen nicht mit Puppen.

Die ständige Identitätssuche hat aber womöglich noch eine andere Funktion: die einer Ersatzhandlung für die Frage nach der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit der Menschen. Gegen deren drohenden Verlust nämlich scheint Identität die adäquate Versicherung. Ihr Kapital ist dabei vornehmlich symbolischer Art. Wer „im Namen“ einer Identität spricht, spricht in jedem Fall mit dem Gewicht der Authentizität, wahlweise mit dem Gewicht der Geschichte, der aufklärerischen Emanzipation, des gesellschaftlichen Fortschritts oder der kulturellen Bewahrung. „Im Namen“ von Identität werden soziale und kulturelle Grenzen gezogen – zwischen Serben und Kosovo-Albanern, zwischen nordirischen Katholiken und Protestanten.

Es werden Rechte – Sprachrechte, Religionsfreiheit, kulturelle Autonomie, sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung – gefordert und verweigert, soziale Normen und Praktiken formuliert. Kurzum: Es wird politisch gehandelt. So beruft sich ein Norweger auf das Christentum und die Befreiung Europas vom Multikulturalismus, um den Mord an Dutzenden Teilnehmern eines Jugendcamps zu rechtfertigen.

Oft genug ist mit einer Selbstverständlichkeit von nationalen, kulturellen, ethnischen, religiösen, geschlechtlichen oder sexuellen Identitäten die Rede, als sei immer schon klar, um was oder wen es sich dabei jeweils handelt. Ganz so, als habe sich in Jahrhunderten nicht geändert, was einen „Mann“ ausmacht oder eine „Christin“. Wer Identität dennoch in erster Linie als „metaphysische Gestalt“ (Aleida Assmann) begreift, wird sich auf die Frage nach dem „Wer oder was bin ich?“ oder „Wer oder was sind wir“? konzentrieren – und nicht auf die stattdessen gebotene Frage nach den Prozessen, in denen Identität hergestellt und verstetigt wird.

Denn Identität ist keineswegs einfach gegeben. So wenig das für die individuelle Identität gilt, so wenig gilt es für kollektive Identitäten. Im Gegenteil: Der Stoff, aus dem Identität gewebt ist, ist im Imaginären angesiedelt – Identitäten sind im wahrsten Sinne des Wortes fiktiv. Sie sind das Ergebnis von Erzählungen, mit denen Individuen und Kollektive sich politisch, historisch und kulturell erfinden und verorten. „Identitäten werden nicht ausgedrückt, sondern formuliert“, resümiert Seyla Benhabib. Benedict Anderson spricht von „imagined communities“, also von „vorgestellten Gemeinschaften“. Die Deutschen haben sich dabei neu erfunden, als sie sich während der Männer-Fußball-WM als fröhlich und weltoffen präsentierten.

Kommen wir zurück zu der Diagnose, dass die alltagsweltliche, politische und wissenschaftliche Rede über Identität tatsächlich weniger von dieser selbst handelt als von den Bedingungen, die gesellschaftliches und politisches Handeln ermöglichen. Dass es also nicht nur um die Frage geht, wer wir sind, sondern mehr noch, wie wir tun. Ist folglich Identität und der Kampf um ihre Wahrnehmung womöglich deshalb zu einem weltweiten Phänomen geworden, weil die Möglichkeit von Identitätsbildung sowie der damit verbundenen Chance, politisch zu handeln und gehört zu werden, dramatisch erodiert ist? Ist die vermehrte Rede von und über Identität Symptom dafür, dass das Handeln selbst aus der Welt verschwindet?

Tatsächlich scheinen die Herausbildung sozialer Identität sowie die Möglichkeit der Teilhabe an gesellschaftlicher Gestaltung gefährdet. Die Einzelne sieht sich globalisierten Finanzströmen, rapide voranschreitender Umweltzerstörung und neuen Kriegen gegenüber, die kaum beeinflussbar scheinen. Selbst lokale Projekte wie Bahnhöfe und Flughäfen werden von den Bürgern und Bürgerinnen als „von oben“ oktroyiert und von ihnen nicht mitgestaltet empfunden.

Vor diesem Hintergrund lassen sich eine Vielzahl gegenwärtiger Praktiken als symptomatische Verhandlungen der Fragen, wer wir sind und wie wir tun, verstehen. So lässt sich etwa unschwer die „Rückkehr der Stämme“ (Michael Walzer) als Reaktion auf jene mit dem Terminus Globalisierung umschriebenen Prozesse beschreiben. Das gilt sowohl für die Herausbildung neuer nationaler Identitäten an den Rändern der westlichen Hegemonie als auch für die zunehmende Zersplitterung westlicher Gesellschaften in insulare Identitätsgemeinschaften. Die Globalisierung hat Identitätsbildungen, die sich bislang auf den imaginären Raum der Nation bezogen, im Grunde längst verunmöglicht. Ein deutsches Fußballteam tritt an, doch die Tore schießen auch Özil oder Asamoah. Und selbst dort, wo „Made in Germany“ draufsteht, ist oft genug chinesische Frauenarbeit drin.

Diese Beispiele machen deutlich, dass Identitäten historischem Wandel unterliegen und gegenüber Um- und Neudeutungen nicht abschließbar, folglich immer prekär sind. Das dies so ist, wird jedoch in der Rede über Identität meist kontinuierlich zum Verschwinden gebracht. Der Eindruck wird erweckt, Identität sei eine stabile Größe, sie habe eine „Natur“.

Gegen die trotz solcher naturalisierender Anstrengungen auftretenden Verunsicherungen werden imaginäre Bollwerke errichtet. Eher beliebige Merkmale werden zur „Natur“ eines Menschen oder einer Gruppe erklärt. Das erlaubt zwar ständige Flexibilität, denn neue Merkmale können hinzutreten und ebenfalls naturalisiert werden. Doch im Effekt bleibt die eindeutige Aufspaltung in wahre und falsche, echte und unechte, reine und unreine Zugehörigkeit bestehen. Hier geborenen Kindern türkischer Einwanderer wird die deutsche Staatsangehörigkeit gewährt, Deutsche sind sie deshalb noch lange nicht.

Von dem Faktum der unaufhebbaren Anwesenheit der „Anderen“ auszugehen, eröffnet die Möglichkeit, dass die eigene Identität herausgefordert und neu modelliert wird. Im Politischen wird jedoch die grundlegende Frage, nämlich wie das „Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Hannah Arendt) organisiert werden kann, mit der Idee exklusiver Identitätsgemeinschafen beantwortet.

Im Zentrum steht dann der Kampf um sichere Grenzen zwischen den Einen und den Anderen – und für die Anerkennung der Ansprüche der Einen notfalls auch gegen die Anderen. Akzeptiert man hingegen, dass jede Identität auch radikal infrage gestellt werden kann, wäre das ein wichtiger Schritt der notwendigen Demokratisierung von Identitätspolitiken. In den Vordergrund rücken dann andere Fragen. Wer wird von welchen Identitäten wie repräsentiert? Für wen steht die Zugehörigkeit zu einer Identität in Konflikt mit anderen Affinitäten, Loyalitäten, Zugehörigkeiten? Inwiefern reflektieren die im Namen einer Identität erhobenen Forderungen auch die Begrenztheit der eigenen Ansprüche?

Gewonnen wäre damit allerdings vor allem eine Perspektive, die Toleranz nicht länger als Frage von Gutdünken, sondern von demokratisch verstandener Gerechtigkeit versteht – im Sinne einer Garantie des Zugangs zu den Ressourcen und Materialien autonomer Identitätsbildung. Die Vorstellung einer abgeschlossenen und einheitlichen Identität dagegen ist eine zutiefst anti-demokratische Vorstellung, da sie den solcherart zu Anderen gemachten das Recht bestreitet, „in der Welt zu Hause zu sein“ (Hannah Arendt).

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