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Was wir fürs Leben mitbekommen und was wir weitergeben: Geschichten vom „Erbonkel“, jeden Sonntag im Tagesspiegel.

© Lisa Rock für den Tagesspiegel

„Der Erbonkel“: Wenn Lesen und Schreiben nicht so recht klappen

Auch wenn nicht sicher ist, ob ihre Gene dazu beigetragen haben: Anzeichen einer Lese- und Rechtschreibstörung bei ihrem Kind sollten Eltern gleich nachgehen.

Eine Kolumne von Sascha Karberg

„Legasthenie? Mein Kind? Auf keinen Fall!“ Für die meisten Erwachsenen ist es eine Selbstverständlichkeit, Lesen und Schreiben zu können. Die Zeiten, in denen das Aneinanderreihen von Buchstaben zu Worten und Sätzen und das flüssige Lesen Schwierigkeiten bereiteten, sind lange vergessen, der Umgang mit Text gehört zum Alltag wie das Atmen.

Umso schwieriger ist es nachzuvollziehen, wenn sich für das eigene Kind die ersten Monate in der Schule nicht als das erhofft Tolle, Aufregende und Neue entpuppen, sondern der geliebte Nachwuchs die Lust verliert – weil es mit all den Buchstaben und Worten nichts anfangen kann. Richtig ist, dass viele Kinder einfach Zeit brauchen. So viele neue Eindrücke, die es zu verarbeiten gilt, so viele Regeln, die zu lernen sind, lassen mitunter wenig Raum dafür, sich auf das ABC einlassen zu können. Doch bei einigen Kindern steckt mehr dahinter, eine Lese- und Schreibschwäche, Legasthenie.

Wenn Lehrerinnen und Lehrer ihren Verdacht gegenüber den Eltern erstmals erwähnen, ist die Reaktion oft ablehnend. Die Angst schwingt mit, dass eine Legasthenie-Diagnose dem eigenen Kind einen Stempel verpasst, ein Makel. Dass es eine der wichtigsten Fähigkeiten zum Bestehen in dieser Gesellschaft, das Lesen und Schreiben, nicht gut genug lernen und beherrschen kann.

Ursachen für eine Legasthenie können vielfältig sein

Doch wie soll Kindern mit Lese-, Schreib- oder Rechenschwäche geholfen werden, wenn das Problem nicht benannt wird? Zumal es nicht ihre Schuld, etwa mangelndes Bemühen, ist, sondern ihnen etwas fehlt. Niemand würde ein Kind nach einem Unfall tadeln, dass es im Sportunterricht nicht mehr mithalten kann. Warum also Kinder im Stich lassen, die von ihren Eltern zufällig verunfallte, mutierte Genvarianten mitbekommen haben, die es ihrem Gehirn aus verschiedenen Gründen schwerer machen, mit Buchstaben umzugehen?

Jüngst fand ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nijmegen und der Universität Edinburgh 42 Genregionen, die mit Legasthenie einhergehen. Das heißt, das Erbgut der 42.000 Erwachsenen mit diagnostizierter Lese-Schreibschwäche sieht an diesen Stellen etwas anders aus als das Genom von einer Million anderen Menschen, von denen keine Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben bekannt sind.

Einen Gentest auf Legasthenie wird es dennoch nicht so bald geben, die Analyse könne nur einen „groben Hinweis“ darauf geben, wie gut Kinder (und Erwachsene) lesen und buchstabieren können. Denn die Ursachen für eine Legasthenie können vielfältig sein: neurologische Entwicklungsstörungen können genauso wie verzögerte Sprachentwicklung dazu beitragen. Einige der mit Legasthenie assoziierten Gene werden auch mit Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) in Verbindung gebracht.

Sicher ist allerdings, dass eine frühe Diagnose von Legasthenie, etwa mit standardisierten Lese- und Rechtschreibtests, Eltern, Lehrenden und Therapierenden die Möglichkeit gibt, wirkungsvoll zu helfen. Ein Verzögern der Diagnose, aus Scham oder Angst, vergrößert das Problem nur – und lässt die Kinder damit allein.

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