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Lorraine Daston hat eine „kurze Geschichte“ der Regeln geschrieben und Quellen von der Antike bis in die Moderne hinein untersucht.

© imago images / Patrick Scheiber, freepik(3)/Gestaltung: Tagesspiegel/Kostrzynski

Lorraine Daston zur Geschichte der Regeln: Gegen die Widerspenstigkeit des Lebens

Die Welt dreht sich um Regeln, doch was ist ihre Geschichte? Die Wissenshistorikerin Lorraine Daston hat untersucht, wie wir uns darauf einigen, woran man sich hält. Und ein Buch über den Sinn und Unsinn von Normen geschrieben.

„Unter Missachtung der Verordnung von 1729 werden Kutschen noch immer an Fahrer unter 17 Jahren vermietet, und auf Maultieren und Pferden, die eigentlich nur als Lasttiere dienen sollten, reitet man durch die Straßen, sodass Fußgänger zu Schaden kommen.“ Diese Pariser Polizeiverordnung stammt aus dem Jahr 1732, doch mit ihrer Spiegelung zivilen Ungehorsams klingt sie trotz des Abstands auch für den heutigen Großstadtmenschen irgendwie vertraut.

Es ist eins vieler Polizeidokumente, die die Berliner Wissenshistorikerin Lorraine Daston in ihrem neuen, jetzt auf Deutsch erschienen Buch „Regeln“ zitiert, um zu zeigen, wie in der Vormoderne um weniger Chaos in der Öffentlichkeit gerungen wurde. Die Bemühungen der Ordnungshüter standen, so fasst Daston zusammen, in einem „grotesken Widerspruch zur alltäglichen Realität“.

Dass in der europäischen Großstadt heute mehr oder weniger eine Verkehrsordnung herrscht, ist alles andere als selbstverständlich. Das führt uns Dastons Blick in die Polizeiarchive von Paris vor Augen. Tausende Regeln sind, nachdem 1667 das Amt des Polizeitleutnants geschaffen wurde, in der Stadt verschriftlicht worden. Aus diesen „langen Listen früherer, offensichtlich wirkungsloser Erlasse“ spreche, so Daston, aber vor allem Eines: die Verzweiflung des Staatsorgans.

Wie setzen sich Normen gegen Widerwillen durch?

Anstatt sich vom Widerwillen der Bevölkerung entmutigen zu lassen, habe die Polizei einfach mehr Vorschriftenliteratur von „atemberaubender Detailliertheit“ verfasst, um das Stadtleben zu ordnen. Um 1750 stand es in Paris ebenso unter Strafe, seinen Nachttopf aus dem Fenster zu leeren, wie sich in Stoffe zu kleiden, deren Import verboten war.

„Regeln. Eine kurze Geschichte“, aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, mit zahlreichen Abbildungen. Suhrkamp, 432 Seiten, 34 Euro.

© Suhrkamp

Wie konnten sich Verkehrsregeln und Hygiene also schließlich etablieren? Daston hat dafür keine einfache Antwort, sie stellt nur fest: In Paris entstand, wie auch in Amsterdam, so etwas wie öffentliche Ordnung erst mit Gründung einer Republik. Erklären lasse sich das durch den autoritären Regierungsstil der Jakobiner oder aber dadurch, dass die Vorteile so mancher Regeln den Menschen selbst einleuchteten. Anders als in der Monarchie habe ein gewähltes Regime womöglich auch mehr Legitimation vor dem Volk gehabt, um Regeln hart durchzusetzen, erwägt Daston.

Grundsätzlich hält sich die Neuzeithistorikerin eher mit großen Thesen zurück. Ihr Denken lebt vielmehr vom genauen Quellenstudium. So nimmt sie sich verschiedenste Künste, Wissenschaften, Praktiken und Gepflogenheiten vor: erste Rechenmaschinen, Partituren, Anleitungen zur Kriegsführung wie zum Pudding-Kochen, Rechtschreibung und Verkehrsordnung.

Drei Funktionen von Regeln: Vermessen, Vergleichen, Befehlen

Diese etwas wilde Mischung an Beispielen hat ihre eigene Logik. Daston unterscheidet hier zwischen Regeln zum Messen (Instrumente, Werkzeuge), zum Vergleichen (Modelle, Paradigmen) und zum Befehlen (Vorschriften, Gesetze) unterscheidet.

Und wie entwickeln sich diese drei Bedeutungen im Laufe der Zeit? Von der Antike bis 1800 hätten alle Regelarten bei der Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen eine ähnlich große Rolle gespielt, erläutert die seit rund 25 Jahren in Berlin lebende Amerikanerin im Gespräch zum Buch. „Allmählich verlor sich im 19. Jahrhundert die Bedeutung des Vorbilds oder Modells und es kam zum Aufstieg der Algorithmen.“ Daston nutzt den Begriff im weiteren Sinn des Worts, jenseits der heutigen IT, meint damit also alle Arten kleinteiliger Anweisungen, die so formalisiert sind, dass „selbst eine Maschine sie auszuführen vermag.“

Es geht nichts über ein anschauliches Beispiel

Ihr Buch zeigt auch: So abstrakt Normen und Leitfäden auch konzipiert sein mögen, ohne konkrete Beispiele oder Modelle – und die Einsicht, dass es immer Abweichungen gibt – kommen wir am Ende nie aus. Sogar der Philosoph und Logik-Freund Ludwig Wittgenstein habe das betont. Selbst das Befolgen von Rechenregeln habe dieser als sozial vermittelte Übung verstanden, die „eher durch Beispiel als durch Vorschrift gelehrt wird“.

Die Spannung zwischen dem Versuch, einerseits das Leben durch Anleitungen zu erleichtern und sich so Freiräume zu schaffen und anderseits immer für Zufall und Ausnahmen mitzudenken, führt die emeritierte Professorin an einer Vielzahl an Beispielen vor. Sie erzählt detailliert, wie von der Antike über Aufklärung und Neuzeit bis in die Moderne gearbeitet, gelernt und Wissen für künftige Generationen festgehalten wurde.

Nicht jede Regel, die sich hält, macht Sinn

Oft schmunzelt man über die Anekdoten und Fakten, die Daston ausgräbt: Etwa dass in Straßburg im Jahr 1666 akribische Kleidervorschriften gab, die nach 256 Rängen unterschied.

Auch heutige Selbstverständlichkeiten rückt Daston durch die Vorgeschichte in ein neues Licht. So wirft ihr Kapitel zur Rechtschreibung augenzwinkernd die Frage auf, warum diese bis heute mit derartiger Vehemenz verteidigt wird – obwohl es niemandem schadet, wenn man sie verletzt. Man lernt hier auch, dass Schreiben nach Regeln im Fall der Vereinigten Staaten und Deutschland dazu dienten, dass diese sich als Republiken behaupten konnten: Die Rechtschreibung diente damals als „patriotisches Gegengewicht zur mangelnden Einheit in Geschichte, Geografie, Sprache und Religion“.

An anderer Stelle erinnert sie daran, dass schon das Wort Naturgesetze sich vom einem großen aufklärerischen Irrtum ableitet: Nämlich dem Glauben, unsere Umwelt folge wie eine Spieluhr einer göttlichen, ewig gleichen Mechanik. Vielmehr sind laut Daston selbst „die spezifischen und lokalen Naturen nicht unveränderlich“, was mit Blick auf den Klimawandel einleuchtet.

Danach gefragt, welche Regel sie am liebsten abschaffen würde, antwortet die Wahl-Berlinerin, die auch fließend Deutsch spricht: „Die Formel: sehr geehrte Damen und Herren!“ Gerade bei offiziellen Anlässen befremde sie zudem das deutsche Protokoll, alle hohen Posten, wie Staatssekretäre, gesondert anzusprechen, „darin spiegelt sich eine Vorstellung von gesellschaftlicher Hierarchie“. Welche Regel ihre Mitbürger mehr beachten sollten, ist für sie auch klar und lacht: „Erst aussteigen lassen, dann einsteigen!“

Auf die Idee brachte Daston der Kalte Krieg

Die Idee fürs Buch sei ihr übrigens noch am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte gekommen, das sie von 1995 bis 2019 leitete. Mit Kolleg:innen habe sie ein Buch zur Irrationalität im Kalten Krieg geschrieben, erzählt sie. Es habe sie damals „frappiert“, wie stark die Wenn-Dann-Logik von Algorithmen im Zuge der nuklearen Aufrüstung zunahm. „Wenn man einen Angriff, etwa von Washington auf Moskau einmal ausgelöst hätte, wäre in 30 Minuten die Rakete dort gewesen.“ Die Logik der nuklearen Abschreckung habe gerade darin bestanden, nichts rückgängig machen zu können – „eine gewollte Automatisierung des Entscheidungsprozesses“.

Nicht zuletzt klingt in „Regeln“ auch Sorge vor umfassender Automatisierung durch KI-Technologien an. So lässt Daston in den Ausführungen immer wieder durchscheinen: Bei aller Anleitung und Strenge kommt es seit jeher auch auf individuelle Urteilskraft an – aus der sich beizeiten ableitet, eine Regel anzupassen oder zu brechen.

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